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Der Wolf

Der Wolf

Titel: Der Wolf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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an denen die letzten Wassertropfen glänzten. Jordan war genau in dem Alter, in dem es keine Mühe machte, rank und schlank zu sein, und in dem die Haut, wie nach dem Rubbeln mit einem Handtuch, einen ganz natürlichen rosigen Schimmer hat.
    Sie grinste, als sie Sarah sah. »Coole Verkleidung. Schwanger, ja?«
    Sarah nickte und zog ihren Pullover hoch, um ihr das Kissen zu zeigen, das sie sich mit dem Klebeband am Bauch befestigt hatte.
    »Spitze. In New York oder Boston stünde in der U-Bahn glatt jemand für dich auf«, kommentierte Jordan.
    Sie lief an Sarah und Karen vorbei zu ihrem Spind und schlüpfte in eine ausgeblichene Jeans, bevor sie sich ein blaues Kapuzensweatshirt mit dem Logo des Middlebury College überzog. Sie grinste und zeigte auf den Namen. »Spitzencollege«, sagte sie. »Noch vor einem Jahr hätten die mich mit Kusshand genommen. Jetzt im Traum nicht mehr.«
    »Verkauf dich nicht unter Wert«, sagte Karen mit einem mütterlichen Lächeln.
    »Tu ich nicht«, erwiderte Jordan. »Ich bin nur Realistin.«
    Kein Teenager ist Realist, dachte Karen, doch sie verkniff sich die Bemerkung.
    Die drei Frauen saßen nebeneinander auf einer Holzbank, während Jordan sich Socken und Schuhe anzog. Ohne aufzublicken, band sie die Schnürsenkel zu einem Doppelknoten und fragte die beiden anderen Roten: »Und? Was machen wir jetzt?«
    Sarah reagierte als Erste. Sie zeigte auf die Perücke und das Kissen. »Uns verstecken?« Es klang wie eine Frage und eine Antwort zugleich.
    »Du meinst, davonlaufen«, sagte Jordan.
    »Ja. Genau.«
    Alle drei Frauen schwiegen einen Moment, als dächten sie über die Möglichkeit nach.
    »Wenn ich einfach nach Hause gehen würde – und so, wie die Situation im Moment ist, kann ich das knicken –, aber nur mal angenommen: Wer sagt uns, dass der Wolf nicht damit rechnet? Ich meine, wir wissen, dass er uns schon eine ganze Weile im Visier hat. Vielleicht hat er mich auch schon nach Hause verfolgt, und er rechnet damit, weil es logisch für mich wäre, zu meinen Eltern zu gehen. Jag der Kleinen nur ordentlich Angst ein …«, Jordan deutete mit dem Finger auf sich, »… und die Kleine kann gar nicht schnell genug zu Mama und Papa laufen. Nur dass das bei mir nicht geht, weil meine Mama und mein Papa derzeit bis zum Hals in der Scheiße stecken.«
    Karen schüttelte den Kopf und machte einen anderen Vorschlag. »Vielleicht kann jede von uns Freunde besuchen …«
    »Und woher sollen wir wissen, für wie lange?«, fragte Jordan. »Ich meine, der Wolf scheint es nicht eilig zu haben. Wahrscheinlich hat er einen Zeitplan, aber wir haben nicht den blassesten Schimmer, wie der aussieht. Also kommen wir früher oder später hierher zurück, immerhin gehe ich hier zur Schule, und ihr beide seid hier zu Hause, und zack!, fängt die ganze Sache von vorne an. Vielleicht hat er das längst einkalkuliert. Oder er will sogar, dass wir die Flucht ergreifen. Je mehr wir uns isolieren, desto leichter machen wir es ihm. Oder aber …«
    Jordan verstummte.
    Karen und Sarah starrten sie durchdringend an, und sie lächelte zaghaft. »Ich hab eine Menge über Mörder nachgelesen«, sagte sie. »Statt Hausaufgaben zu machen. Ich hab mich in die Bibliothek gesetzt und die Psyche von Mördern studiert.«
    »Und was hast du gelernt?«, fragte Sarah.
    »Dass wir keine Chance haben«, erwiderte Jordan in nüchternem Ton, als sei das die einfachste Sache der Welt und kein Grund, sich künstlich aufzuregen.
    Wieder verfielen die drei Roten in Schweigen, bis Karen einen Versuch unternahm, die Stimmung in eine andere Richtung zu lenken.
    »Ich kann sowieso nicht sang- und klanglos verschwinden«, sagte sie. »Ich hab auf Monate im Voraus Patiententermine, ich kann die Leute nicht hängenlassen.«
    Sarah schloss die Augen und wippte kaum merklich vor und zurück. »Ich könnte weggehen. Wär vielleicht das Beste. Irgendwo ganz neu anfangen. Mir einen anderen Namen zulegen, einen Job finden und einfach jemand anders werden. Vielleicht könnte ich wirklich weglaufen und mich verstecken. Möglicherweise würde es funktionieren.«
    Sie hatte das Gefühl, als hörte sie jemand anderem zu. Wieso sollte es nicht klappen? Der Gedanke allerdings, dass sie die beiden Särge für immer hinter sich lassen sollte, tat fast so weh wie die Erinnerung an ihren Verlust.
    Karen musste ihr etwas von diesen Gefühlen an den Augen abgelesen haben.
    »Das ist das Klischee, das uns vorgegaukelt wird«, sagte sie. »Neuanfang. Aber

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