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Der Wolf

Der Wolf

Titel: Der Wolf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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erwärmt. Sie erinnerte sich, wie vor Jahren, als sie ihre ersten Nummern ausprobierte, ein Comedianveteran sie zur Seite genommen und gesagt hatte: »Wissen Sie, was nicht komisch ist? Ein Mann mit Gipsbein an Krücken. Und wissen Sie, was ein richtiger Brüller ist? Ein Mann mit Gipsbein an Krücken, der auf dem vereisten Bürgersteig ausrutscht und sich ein paar Mal überschlägt. Nichts lieben die Leute so sehr wie das richtig üble Missgeschick anderer. Daran sollten Sie immer denken, wenn Sie da oben stehen.«
    Und sie nahm sich den Rat zu Herzen. In ihren Auftritten machte sie sich über Herzinfarkte, Krebs und Ebolafieber lustig. Meistens ging die Rechnung auf.
    »Fragt mich dieser Kerl doch glatt: Was haben Sie gegen Drogen, Doc? Und ich so zu ihm: Nun ja, aber Beruhigungspillen für Hunde? Grinst der mich an und sagt: Na ja, ich und mein Hund, wir sind uns ziemlich ähnlich …«
    Karen legte eine Pause ein. »Ich daraufhin zu ihm: Mag ja sein, schnupfen Sie das Zeug nur weiter, und Sie wedeln bald nicht mehr mit dem Schwanz …« Bei dem Wort Schwanz griff sie sich in den Schritt, um einen masturbierenden Mann zu imitieren.
    Sie erntete brüllendes Gelächter und einigen Applaus. Das Feedback genügte Karen, um sich zu entspannen. Sie hatte das Publikum genug für sich eingenommen, um einen gelungenen Abgang hinzukriegen. Sie wusste auch schon, mit welchem Witz. Ein Teil des Reizes beim Auftritt bestand für sie darin, in den Minuten auf der Bühne ihre Gedanken in verschiedenen Schubfächern zu ordnen wie in einem Apothekerschrank.
    Sie kehrte zu ihrem imaginären Junkie zurück. »Und ich dann: Wissen Sie was? Kann Ihnen glatt passieren, dass Sie das Bein zur falschen Zeit heben …«
    Die nächste Lachsalve ging durch die Reihen. Es war wichtig, dass die Leute in diesem abgedunkelten Raum buchstäblich sahen, wie sich ein Mann in einen Hund verwandelte.
    »Andererseits, sagt der Kerl zu mir, kann ich dann vielleicht besser riechen, wenn eine so richtig heiß ist.«
    Sie wusste, dass bei dieser Zeile die Männer im Raum klatschen würden. Was sie auch taten.
    Karen hatte sich warmgelaufen, war zuversichtlich und hatte die unvermutete Nachricht auf ihrem Handy, die sie bis auf die Bühne verfolgt hatte, in den hintersten Winkel ihres Bewusstseins verdrängt. Sie genoss den Applaus. Eine Streicheleinheit, dachte sie, und es tat gut.
    Doch dann übertönte ein einsamer Ruf den Lärm.
    Es war ein schriller, durchdringender Laut.
    Sie war solche Reaktionen durchaus gewöhnt; bei anderen Auftritten hatte sie so etwas entweder ignoriert oder sich darüber lustig gemacht.
    Doch dieser Ruf war anders – der Ton schwoll an und fiel dann plötzlich ab. Er erwischte sie eiskalt, denn er klang wie das Heulen eines Wolfs.
    Sie wechselte die Stellung und nahm einen großen Schluck aus der Wasserflasche. Ihr fiel nichts ein – sie wusste, dass die nächste Pointe fällig war, doch ihr Denken setzte aus.
    Jede Frau hat solche Rufe oder Pfiffe schon mal gehört. Das ist nichts weiter als ein etwas primitives Kompliment. Gibt es seit je.
    Bis vor kurzem hatte sie sich nichts dabei gedacht. Jetzt schon.
    Sie versuchte, sich zu fassen.
Es ist nichts.
    Eine Stimme in ihr schrie: Lügnerin!
    Karen versuchte mit aller Macht, an den letzten Witz anzuknüpfen.
    »Natürlich«, sagte sie, »verschwenden die Pharmakonzerne ihre Zeit und ihr Geld an die falschen Probleme. Ich meine, sie versuchen, Herpes und Erkältungen in den Griff zu kriegen. Aber wo bleibt, bitte schön, die Pille, die Frauen beim Einparken hilft?«
    Prompt folgte prustendes Gelächter aus der Dunkelheit.
    »Oder das lang ersehnte Mittel gegen die Footballsucht der Männer? Ladys, das könnten wir einfach unbemerkt in die Salsa und den Nacho-Dip mischen, und spätestens wenn das Spiel vom Bildschirm verschwindet und er auf die neueste Verfilmung von
Stolz und Vorurteil
wechselt, wüssten wir, es hat gewirkt …«
    Noch mehr Kichern und Gejohle.
    Karen entspannte sich allmählich wieder und redete sich ein, das Wolfsgeheul sei kein Wolfsgeheul gewesen, als es im allgemeinen Gelächter zum zweiten Mal ertönte.
    Ist es doch, ist es nicht, versuchte sie, sich auf diesen Laut einen Reim zu machen. Sie hielt sich die Hand über die Augen, um an den Scheinwerfern vorbei das Publikum zu erkennen, doch vor ihr lag nichts weiter als eine dunkle Höhle, in der sie bestenfalls vage Silhouetten ausmachen konnte.
    Und dann fiel es ihr plötzlich wie Schuppen von den

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