Der Wolf
so einfach ist das nicht. Und du würdest es nicht fertigbringen.«
Sarah nickte. »Nein. In Wahrheit geht es darum weiterzumachen. Und wenn man lange genug weitermacht, wird es vielleicht irgendwann ein Neuanfang.«
Jordan meldete sich zu Wort. »Bringt uns sowieso nichts«, sagte sie. »Wir haben keine Ahnung, wozu der Wolf fähig ist und wozu nicht. Theoretisch könnte er dir also folgen, selbst wenn du versuchst, heimlich zu verschwinden und neu anzufangen. Du wüsstest nie, ob du in Sicherheit bist oder nicht.«
Bei der Vorstellung, den Rest ihres Lebens über die Schulter zu sehen und bei jedem ungewöhnlichen Geräusch zusammenzuzucken, verstummten alle drei.
»Ich glaube, wir sind alle dazu verdonnert, hier zu bleiben, ob uns das passt oder nicht«, fasste Jordan die Stimmung zusammen. »Und ich schätze mal, das weiß der Wolf, und das hat eine Rolle gespielt, als er uns herausgepickt hat. Folglich gibt es nur eine Antwort.«
»Und die wäre?«, fragte Sarah.
»Wir müssen ihn finden, bevor er zuschlägt.«
»Na schön, aber …«
»Und noch etwas. Wir müssen uns danebenbenehmen.«
Bei diesen Worten horchten die beiden älteren Frauen verwundert auf.
»Wie meinst du das?«
»Wir dürfen uns eben
nicht
normal verhalten.«
Karen und Sarah wollten beide protestieren, doch Jordan hob die Hand.
»Ich weiß, ihr wart der Meinung, genau das sollten wir machen, aber überlegt doch mal. Bringt uns das wirklich was? Nein.«
Sie zögerte, bevor sie fortfuhr.
»Was sind wir?«, fragte sie und gab die Antwort selbst. »Wir sind Gewohnheitstiere. Wann fühlen wir uns ein kleines bisschen sicherer? Wenn wir Umwege fahren und uns verkleiden und irgendwie hoffen, den Wolf auszutricksen. Selbst wenn wir wissen, dass uns das letztlich nicht gelingt, fühlen wir uns trotzdem besser. Ich will damit sagen, jede von uns muss versuchen, anders zu sein, als sie ist, denn der Wolf kennt uns, er ist uns gefolgt, und dieses verdammte kleine Rotkäppchen hat keine Lust, blind in die Falle zu tappen, die er ihr gestellt hat.«
Bei den letzten Worten pochte sich Jordan im Takt mit dem Zeigefinger energisch an die Brust.
Karen war von der mühsam beherrschten Wut des Mädchens überrascht. Und von der Intelligenz ihrer Überlegungen verblüfft.
»Wenn der Wolf uns im Wald auflauert, dann weiß er …«, fing sie an, doch Jordan fiel ihr ins Wort und führte ihren Satz zu Ende.
»… dann sollten wir auf einem anderen Weg zur Großmutter gehen.«
»Das ist leichter gesagt als getan«, wandte Sarah ein. »Wir sind, wer wir sind, und können nicht von heute auf morgen alles anders machen, oder hast du vor, morgen einfach mal so ein Basketballspiel zu schwänzen? Karen, du hast all diese Patienten erwähnt. Du hast Termine. Wahrscheinlich hat auch der Wolf den Termin festgelegt hat, wann wir sterben sollen. Wie willst du das, was du bist und was du tust, von einer Sekunde zur anderen über den Haufen schmeißen, um seine Pläne zu durchkreuzen?«
Karen nickte. »Schon klar. Ich weiß auch nicht, ob das geht, aber wir können es zumindest versuchen. Oder hat jemand eine bessere Idee?«
Jordan deutete mit einer ausladenden Bewegung auf die Wände des Umkleideraums. Während sie sich leise unterhalten hatten, waren die anderen Mädchen der Mannschaft aus den Duschen gekommen, hatten sich angezogen und waren gegangen, so dass sie jetzt allein vor den Reihen der Stahlspinde hockten. Die feuchte Hitze im Raum begann sich langsam zu verziehen.
»Was?«, fragte Sarah.
»Warst du schon mal an meiner Schule?«, fragte Jordan.
»Nein.«
»Und du, Karen?«
»Nein.«
»Also, ich war noch nie an der Schule, an der du unterrichtet hast, Sarah«, fuhr Jordan fort. »Und ich gehe auch zu keinem Arzt, dort, wo du deine Praxis hast, Karen. Es scheint, als ob der Wolf sich willkürlich drei rothaarige Frauen ausgesucht und dann seine Pläne geschmiedet hat. Also, mal ganz ehrlich, falls es so ist, dann sind wir, glaube ich, geliefert. Dann können wir uns nur ein paar Knarren mehr kaufen und abwarten. Dann ist es der blanke Irrsinn. Aber vielleicht ist es ja doch kein Zufall.«
Sie wollte fortfahren, wusste aber plötzlich nicht mehr, was sie sagen wollte.
Karen dagegen schien tief in Gedanken, und Sarah fing wieder zu wippen an.
Die drei Frauen schwiegen. In der angrenzenden Nasszelle hörten sie eine Dusche laufen, die eine Spielerin nicht richtig abgedreht hatte.
»Wir sind ein Dreieck«, sagte Jordan. »Wenn wir die
Weitere Kostenlose Bücher