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Der Wolf

Der Wolf

Titel: Der Wolf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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Augen: der Anruf von Rote Zwei. Das war eine Warnung.
    Er ist hier. Er ist genau da drüben hinter den blendenden Scheinwerfern. Er ist zum Greifen nahe.
    Ich bin für ihn zum Greifen nahe.
    Karen kämpfte gegen die Panik an. Sie setzte alles daran, mit dem Comedian-Geplapper fortzufahren. Innerlich forderte sie sich auf: Mach einen Witz. Sag: »Jemand scheint sich verliebt zu haben …« oder sonst irgendeinen Blödsinn. Tu so, als wäre dieser Ruf harmlos und normal.
    Es gelang ihr nicht. Der Gedanke an Mord war stärker.
    Ist es jetzt so weit? In diesem Moment? Wird er mich vor all diesen Leuten umbringen?
    Ihr zuckten die Hände. Noch einmal setzte sie gierig die Wasserflasche an den Mund, doch sie war leer.
    Sie stand auf der Bühne. Sie konnte sich nirgends verstecken. Die Scheinwerfer verfolgten jede ihrer Bewegungen.
    Es drängte sie, etwas zu sagen, das ihr einen einigermaßen würdigen Abgang vom Podium verschaffen würde, so etwas wie: »Also, ich muss los, die Notaufnahme wartet.« Andererseits mochte so etwas den Wolf erst recht zum Handeln provozieren. Würde er sie auf der Stelle erschießen, falls sie zu fliehen versuchte? Würde er wie ein geistesgestörter John Wilkes Booth mit einem Messer oder einer Knarre auf die Bühne springen?
    Sie schloss die Augen. Sie war zwischen zwei gegensätzlichen irrationalen Ängsten hin- und hergeworfen. Da war die Angst davor, sich vor dem Publikum zu blamieren, und die Angst vor dem Wolf.
    Bei der Frage, ob sie nur noch Sekunden zu leben hatte, schluckte sie mühsam.
    »Also«, sagte sie ins Publikum und zwang sich zu einem Grinsen, »das war’s dann für heute Abend von mir. Nehmen Sie zwei Aspirin und rufen Sie mich morgen früh in der Sprechstunde an.«
    Der Schuss würde im Applaus untergehen. Und der Schütze im Schummerlicht des Lokals. Es würden Panik und Chaos herrschen. Jemand würde rufen: »Schnell, einen Arzt!« Dabei war sie natürlich die einzige Ärztin im Club, und sie würde auf der Bühne sterben. In dem Wirrwarr aus bitterer Ironie und der Fassungslosigkeit über den Mord würde der Wolf entwischen. So viel stand für sie fest: Er hatte seine Flucht gut geplant und wäre im Nu bei Rote Zwei und Rote Drei.
    Es sei denn, er hatte sie schon getötet.
    Vielleicht war das der Anruf, dachte Karen. Auf dem Display stand »Sarah«, und dann kam die neue Nachricht. Vielleicht lautete sie: »Ich bin tot.«
    Karen sah die zwei Leichen deutlich vor sich. Rote Zwei und Rote Drei, blutverschmiert, mit verrenkten Gliedern, abgeschlachtet. Fast hatte sie das Gefühl, über ihre Leichen treten zu müssen, als sie die Bühne verließ.
    Sie stolperte zum Vorhang. Sie wusste, dass sie noch einmal ins Publikum winken sollte, das immer noch klatschte, doch sie schaffte es nicht, zurückzublicken. Jeder Schritt konnte ihr letzter sein. Ihre Beine fühlten sich wie Watte an. Jede Sekunde rechnete sie mit dem Knall, dem letzten Laut, den sie je hören würde.
    Als sie den Vorhang erreicht hatte und hinter sich zufallen ließ, kam es ihr so vor, als hätte sie noch nie eine derart weite Strecke zu Fuß zurückgelegt.
    Einen Moment lang sog sie gierig die abgestandene Luft in der Kulisse ein. Am liebsten hätte sie sich in einen dunklen Winkel gekauert. Im selben Moment rief sie sich zur Ordnung: Du musst nachsehen!
    Sie warf ihre Bühnenbrille und das Stethoskop auf ihre Tasche, schlüpfte aus dem weißen Kittel und rannte an dem erstaunten Barkeeper, dem ebenso verblüfften Clubbesitzer und einem jungen Mann in Tweedjackett und khakifarbener Hose vorbei, der an diesem Abend auf ihre Vorstellung folgte. Sie lief zum Seiteneingang des Clubs, der in den Gastraum führte. Ein Schild warnte
Beim Öffnen wird Alarm ausgelöst,
doch die Anlage war abgeschaltet.
    Karen stürmte durch die Tür.
    Im Club waren ein paar Lampen angegangen – es war gerade eben hell genug, um die Gesichter im Publikum abzusuchen.
    Doch sie wusste nicht, wonach sie suchte. Nach einem Mann ohne Begleitung? Einem Wolfsgebiss? Wie sollte sie in einer Schar von Leuten den Mörder ausfindig machen?
    Was sie sah, erwies sich als bemerkenswert normal. Eine neue Runde Bier und Burger wurde gebracht. Vollbesetzte Tische, zumeist mit Paaren. Ihr schlugen lautes Gelächter und fröhlich erhobene Stimmen entgegen.
    Systematisch ließ sie den Blick von links nach rechts durch die Tischreihen wandern.
    Am liebsten hätte sie geschrien: »Wo steckst du?«
    »Hey, Doc, alles in Ordnung?«
    Sie zuckte so heftig

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