Der Wolf
angestauten Wut freien Lauf. »Besa mi culo, puta!« Leck mich am Arsch, Miststück, beleidigte sie das andere Mädchen.
Einer der Jungen in der Klasse stand auf, als wollte er dem Mädchen Beistand leisten, doch zur Krönung kramte Jordan die geläufigste aller spanischen Beschimpfungen hervor, die auch der Junge mit Sicherheit kannte. Die mit Sicherheit alle kannten.
»Chinga tu madre!«, platzte Jordan heraus und zeigte mit dem Finger auf ihn.
»Jordan, es reicht!« Mrs. Garcia war in wütendes Englisch gewechselt, was nur selten vorkam.
Jordan spürte alle Augen auf sich gerichtet. Sie warf trotzig den Kopf zurück und hatte schon die nächste Beschimpfung für die Klasse auf den Lippen. Ihr kam eine alte Beleidigung aus einem der Bücher, das sie in diesem Semester gelesen hatten, in den Sinn: El burro sabe más que tú. Ein Esel weiß mehr als du. Sie wollte den Satz ihren Klassenkameraden entgegenbrüllen, zögerte jedoch.
»Du kannst entweder gehen oder bleiben, das liegt ganz bei dir, Jordan«, sagte Mrs. Garcia betont langsam in beherrscht wütendem Ton. »Doch so oder so ist mit diesem Benehmen augenblicklich Schluss.«
Nach dieser Mahnung herrschte Schweigen in der Klasse. Flüstern, heimliches Kichern und gedämpfte Schimpfwörter verstummten.
Jordan bückte sich und packte ihre Sachen. Es war zu verlockend, hinauszumarschieren und an der Tür allen noch einmal den Stinkefinger zu zeigen, bevor sie irgendein abgelegenes, idyllisches Fleckchen fand, wo sie geduldig darauf warten konnte, dass ihr Mörder sie entdeckte und dem Ganzen ein Ende machte. Doch auf halbem Wege scheute sie vor dem dramatischen Abgang zurück. Sie sah Mrs. Garcia an, deren hochrotes Gesicht wieder eine normale Farbe angenommen hatte und einfach nur noch traurig wirkte.
Jordan holte tief Luft.
»No«, sagte sie plötzlich. »Esta es mi clase favorita.«
Abrupt setzte sie sich wieder hin.
Erwartungsvolles Schweigen legte sich über die Klasse. Nach einer langen Pause räusperte sich Mrs. Garcia, warf Jordan einen letzten besorgten Blick zu und murmelte »Bueno«, bevor sie mit der Unterrichtsstunde fortfuhr.
Jordan lehnte sich zurück und starrte erneut aus dem Fenster. Ihr war nicht danach, den Blicken ihrer Mitschüler zu begegnen.
Stattdessen dachte sie nach.
Böse – das hieß
malo.
Wolf – das hieß
lobo.
Malo lobo, wiederholte sie im Kopf, das hatte einen schönen Klang. Das war so im Spanischen, jeder Satz war so melodisch, als gehöre er zu einem Song. Jordan seufzte und saß stocksteif da, um jeden Blickkontakt mit den anderen Schülern zu vermeiden. Sie fühlte sich wie radioaktiver Abfall: Sie glühte gefährlich, und die anderen kamen ihr besser nicht zu nahe.
Am Ende der Stunde wartete Jordan, bis die anderen gegangen waren. Mrs. Garcia hatte sich an ihren Tisch gesetzt. Sie winkte Jordan nach vorne.
»Es tut mir leid, Mrs. G«, sagte Jordan.
Die Frau nickte. »Ich weiß, dass du im Moment viel durchmachst, Jordan. Kann ich irgendwie helfen?«
Haben Sie eine Knarre? Können Sie einen sauberen Schuss abgeben?
»Nein, aber trotzdem, danke.«
Die Lehrerin wirkte enttäuscht, brachte jedoch ein zartes Lächeln zustande. »Wenn du es dir anders überlegst, lass es mich wissen. Selbst wenn du nur einen Menschen zum Reden brauchst. Jederzeit. Sieben Tage die Woche. Egal aus welchem Grund. Okay?«
Sind Sie eine Killerin oder nur eine Spanischlehrerin? Können Sie einen Mann zur Strecke bringen, der es auf mein Leben abgesehen hat?
»In Ordnung, Mrs. G. Danke.«
Jordan schlang sich ihren Rucksack über die Schulter und verließ den Klassenraum. Sie war noch nicht weit gekommen, als sie ein Summen hörte, das von ihrem Prepaid-Handy kam. Sie huschte in die Damentoilette und schloss sich in eine freie Kabine ein, bevor sie das Handy herauszog und auf das Display starrte.
Es war eine SMS von Rote Zwei.
Treffen heute Abend. Müssen reden. Wichtig.
Sie wollte gerade darauf antworten, als eine zweite Nachricht eintraf, diesmal von Rote Eins.
Pizzaservice
19
:
00
.
Sie antwortete beiden mit einem O.K
.
Es juckte ihr in den Fingern, hinzuzufügen:
falls wir um sieben noch am Leben sind.
Doch sie tat es nicht.
Anschließend musste Jordan zum Englischunterricht. Ihre Hausaufgabe war die Lektüre von Hemingways
Ein sauberes, gut beleuchtetes Café.
Sie hatte die Geschichte zwei Mal gelesen, sich aber für den Fall, dass die Lehrerin ihr dazu eine Frage stellte, vorgenommen, so zu tun, als
Weitere Kostenlose Bücher