Der Wolf
sie sich beeilen sollte.
In seinem Arbeitszimmer fasste der Böse Wolf zufrieden seine Notizen über den Vortrag in einer Computerdatei zusammen. Auch die Anrufe, die er am Vortag gemacht hatte, trugen zu seiner guten Stimmung bei. Er schrieb:
Manchmal ist der lauteste Lärm, den man machen kann, besonders leise.
Das Handy, von dem aus er jede der drei Roten angerufen hatte, stammte aus einem kleinen Elektronikgeschäft – einem Laden ohne Überwachungskameras –, und er hatte es bar bezahlt. Er war auf einen Rastplatz an der Autobahn gefahren, hatte die Anrufe gemacht, sämtliche Speicherchips entfernt und das Handy mit dem Absatz zertreten. Das Gehäuse hatte er ein Stück von der Raststätte entfernt in einer Mülltonne entsorgt, die Speicherkarten in der Nähe des Autorenmeetings in einen kleinen Fluss geworfen. Kaum etwas bereitete dem Bösen Wolf an der systematischen Planung und Durchführung eines Mords so viel Vergnügen wie die kleinen Vorbereitungsschritte, bei denen er sich das baldige Sterben in jeder Einzelheit ausmalen konnte.
Vor allem,
tippte er mit Verve in die Tasten,
muss man das richtige Maß an Furcht erzeugen. Die Panik in den letzten paar Sekunden, in denen die Opfer begreifen, was mit ihnen geschieht, oder auch die langsame Steigerung lähmender Angst verleitet sie unweigerlich zu gravierenden Fehlern, die ihrerseits die Vorfreude und Erregung des Mörders steigern. Sie versuchen zu entkommen oder sich zu verstecken und stolpern bei jedem Schritt über die eigenen Füße, so dass sie umso leichtere Beute sind.
So ist es immer. Schon mal einen dieser Teeny-Slasher-Filme gesehen? Egal wohin sie sich wenden, Jason oder Freddy Krueger oder der Typ aus Texas mit der Gesichtsmaske und der Kettensäge hat ihren Schachzug längst durchschaut und wartet schon auf sie. Die Opfer kapieren einfach nicht, dass sie sich durch angstgeleitete Entscheidungen umso mehr in Gefahr begeben. Sobald sie blindlings die Flucht ergreifen, laufen sie jemandem, der das Terrain besser kennt, geradewegs in die Arme. So verrückt es klingen mag, trifft der Film Freitag der 13 . den Nagel auf den Kopf. Denken wir an Rotkäppchen: Der Wolf kennt die Umgebung wie im Schlaf. Das ist in diesen Filmen nicht anders. Sobald sich die oder der Gejagte eine Blöße gibt, nutzt der versierte Mörder diese Schwäche zu seinen Gunsten. Diese kurzen Momente, in denen das Opfer ihm schutzlos ausgeliefert ist, gehören zu den kostbarsten Erfahrungen beim Töten.
Da ist jede Sekunde von unschätzbarem Wert.
Der beste Mörder holt aus einem einzigen Augenblick alles heraus.
Für eine Weile schwebten die Finger des Wolfs über der Tastatur. Die Worte, die wie von selbst den Bildschirm füllten, sowie der wachsende Stapel im Ablagekorb neben ihm kündeten davon, dass die Dinge unaufhaltsam dem Ende zugingen.
Waffen, überlegte er. Es war an der Zeit, sich für die jeweils richtige Waffe zu entscheiden.
Rote Eins würde nicht so sterben wie Rote Zwei. Und bei Roter Drei wäre es wieder ganz anders.
Drei willkürliche Morde, die nicht miteinander in Verbindung gebracht werden könnten.
Alles, was er aus den Gesprächen mit den Cops, aus dem Vortrag gestern Abend, aus den Auskünften von Strafverteidigern und Staatsanwälten gelernt hatte, die er unter dem Deckmantel der Recherche befragt hatte, wie auch aus der einschlägigen Unterhaltungsliteratur und dem populären Sachbuch, hatte ihm bestätigt, dass an dem Tag, an dem die drei Roten sterben würden, alles so aussehen musste, als handle es sich bei dem zeitlichen Zusammentreffen um einen tragischen Zufall. Dadurch würden in unterschiedlichen Teilen des Regierungsbezirks drei separate Ermittlungsteams unabhängig voneinander an drei offensichtlich vollkommen verschiedenen Tötungsdelikten arbeiten. Falls sich die Beamten überhaupt die Zeit nahmen, miteinander zu sprechen, würden ihnen nur die vielen Unterschiede ins Auge springen und den Gedanken an einen Serienmörder von vornherein ausschließen. Jedes Verbrechen würde seine eigenen, unverwechselbaren Fragen nach dem Täter aufwerfen.
Dies würde, daran bestand für ihn kein Zweifel, die Faszination des Lesepublikums ins Unermessliche steigern, wenn wenig später sein Buch in die Läden käme und wahre Details zur Motivation, zur Planung und Durchführung der Morde durch einen genialen Verbrecher ausbreitete.
Sobald auf diese Weise ans Licht käme, wie die Polizei auf der ganzen Linie versagt hatte, würde es das
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