Der Wolf
studiert, so dass es für sie keine allzu große Herausforderung darstellte, umgekehrt Highschool-Kids in den USA ihre eigene Sprache beizubringen. Die stämmige, dunkelhaarige Frau mit dem glucksenden Lachen gewann unbeirrbar allem, was auch nur vage mit ihrem Heimatland verbunden war, etwas Positives ab. Mit unverhohlenem Enthusiasmus führte sie Filme wie
Pans Labyrinth
oder
In ihren Augen
vor und gab ihnen als Hausaufgabe Klassiker von Cervantes bis García Márquez zu lesen, auch wenn sie bezweifelte, dass die Schüler viel davon verstanden. Fiel im Unterricht das Stichwort »Kunst«, war sie nicht mehr zu bremsen und beschrieb in höchsten Tönen den Prado in Madrid mit seinen berühmten Gemälden von Goya bis Hieronymus Bosch. Mit ihrem überschäumenden Temperament war sie an der Schule sehr beliebt, wobei ihre großzügige Benotung von Klausuren und Hausaufgaben ein Übriges tat. Obwohl Jordan den Kurs nur mit knapper Not schaffte, hatte Mrs. Garcia sich geweigert, sie auf ein niedrigeres Niveau herabzustufen, und ihr mehr als einmal versichert, früher oder später würde sie an ihre früheren Leistungen anknüpfen. Jordan wusste, dass sie damit ihre Anteilnahme an der schwierigen Familiensituation zum Ausdruck bringen wollte. Sie fragte sich, ob Mrs. Garcia ähnliche Sympathie für sie hegen würde, wenn sie vom Bösen Wolf erführe.
Jedenfalls gehörte Mrs. Garcia zu Jordans Lieblingslehrern, schon weil sie weder erziehungsberechtigt war noch zum festen Lehrkörper gehörte und nicht so tat, als hätte sie sämtliche Antworten auf Jordans Probleme parat.
An diesem Morgen setzte sich Jordan auf ihren angestammten Platz im hinteren Teil der Klasse neben dem Fenster, damit sie hinaussehen und in einem wenige Meter entfernten Baum die Amseln beobachten konnte. Sie war völlig geistesabwesend und ging in Gedanken noch einmal jeden Aspekt des stummen Anrufs durch. Wäre auch nur ein Wort gefallen, hätte sie so etwas wie kehlige Laute gehört, vielleicht auch heftiges Atmen oder pfeifende Laute eines Mannes, der sich selbst befriedigte, hätte sie sich ein Bild machen können, doch diese radikale Stille beschwor in ihrer Vorstellung nur eine leere Leinwand herauf.
Sie ballte die Hände zu Fäusten, presste sie unterhalb der Brust zusammen, als kämpfe sie gegen sich selbst.
»Jordan?«
Ihre Knöchel wurden weiß. Sie hatte das Bedürfnis zuzuschlagen.
»Señorita Jordan?«
Vor Wut erstarrte ihr Gesicht zur Maske.
»Señorita Jordan, qué pasa?«
Das Kichern der anderen Schüler holte sie in die Gegenwart des Klassenzimmers zurück. Völlig verwirrt sah sie sich um, blickte in die grinsenden Gesichter und registrierte das hämische Gelächter. Sie hatte keine Ahnung, was los war, bis sie nach vorne schaute, wo Mrs. Garcia an der Wandtafel stand und sie durchdringend ansah. Im selben Moment dämmerte Jordan, dass ihr eine Frage gestellt worden war und sie nicht geantwortet hatte.
»Tut mir leid …«, stammelte sie.
»En español, por favor, Jordan.«
»Ich weiß nicht …«
»No estabas escuchando?«
»Doch, ich habe zugehört, ich war nur …« Sie führte die Lüge nicht zu Ende.
»Te pasa algo?«
»Nein, Mrs. Garcia, alles bestens.« Das war eine zweite Lüge, und sie wusste, dass die Lehrerin wie die Schüler sie durchschauten.
»Bueno. En español, por favor, Jordan«, wiederholte Mrs. Garcia. »Cuál es el problema?«
»Es gibt kein Problem, ich war nur …« Sie stockte, als sie merkte, dass sie kurz davor war, sich zu widersprechen. Ihr war klar, dass sie auf Spanisch antworten sollte, und die richtigen Worte lagen ihr auf der Zunge. Redewendungen, Sätze, Passagen aus Büchern, Dialoge aus Filmen machten sich in Jordans Kopf breit, und sie suchte verzweifelt nach der richtigen Kombination, um die Fragen ihrer Lehrerin zu beantworten.
Mrs. Garcia stand vor der Klasse und schwieg. In diese Stille hinein flüsterten sich ein paar andere Mädchen etwas zu. Jordan konnte nicht ganz verstehen, was sie sagten, wusste aber, dass es etwas Bissiges war.
Sie kam nicht dagegen an.
Sie sprang auf und fuhr zu den Mädchen herum. Sie sah das höhnische Grinsen in ihren Gesichtern. Sie fauchte das Mädchen an, das ihr am nächsten saß. »Pinche puta idiota!«
Die Beschimpfte zuckte zurück. Jordan fragte sich, ob sie je in irgendeiner Sprache als miese dämliche Schlampe beschimpft worden war.
»Jordan!«, schaltete sich Mrs. Garcia ein.
Doch ungerührt ließ Jordan ihrer tagelang
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