Der Wolf aus den Highlands
passierte alles so rasch, dass sie gar nicht protestieren konnte.
Einen Moment lang dachte sie trotz der groben Behandlung, es sei Rolf, doch rasch wurde ihr klar, dass das nicht sein konnte. Das Gefühl stimmte nicht und der Geruch auch nicht. Als sie gegen die Mauer gedrängt wurde, wusste sie, dass Egan sie erwischt hatte. Der kurze Blick auf sein Gesicht, bevor er ihr einen Kuss auf den Mund presste, sagte ihr, dass er keine Lust mehr hatte, den sanften Freier zu spielen.
Diesmal würde er wohl nicht aufzuhalten sein. Annora konnte sein Verlangen fast schon riechen. Doch anders als Master Lavengeance erregte Egan keinerlei Verlangen in ihr. Sein harter Mund war schmerzhaft, sein Geschmack, als er ihr gewaltsam die Zunge in den Mund stieß, und die Art, wie er sich an ihr rieb, erregten in ihr nur Übelkeit und Angst. Und dass es spät am Tag war und sie sich im hintersten Teil des Burghofs befanden, verschärfte ihre Lage noch; denn sehr wahrscheinlich würde hier um diese Zeit niemand vorbeikommen. Das Auftauchen eines Dritten hatte bislang immer dazu geführt, dass Egan einen Rückzieher machte. Annora wusste nicht warum, aber offenbar wollte er nicht, dass die Leute dachten, er würde sich ihr aufdrängen. Und das, obwohl er im Ruf stand, ein brutaler Vergewaltiger zu sein, und schon viele Frauen auf Dunncraig und auch anderswo mit blauen Flecken und blutend zurückgelassen hatte – und mit einer Angst vor Männern, die sie nie mehr überwanden.
Annora versuchte, ihn wegzustoßen, aber er war zu groß und stark. Er presste sie an die harte Wand, sodass sie sich kaum bewegen konnte. Mit den Füßen zu treten erwies sich als sinnlos, und ihre Hände hatte er fest gepackt und an die steinerne Mauer gedrückt, so fest, dass sie spürte, wie ihr das Blut über die Handgelenke tropfte. Von dem Mann ging eine brutale, grobe Begierde aus, etwas fast Barbarisches und sehr Beängstigendes.
Doch auf einmal war er weg, und sie war frei. Keuchend sah sie, wie Master Lavengeance ihren Angreifer mit einer kraftvollen Faust aufs Kinn bewusstlos schlug. Einen Moment lang war sie verblüfft über das glückliche Auftauchen des Mannes, aber auch über die mächtige Wut, die die Luft um ihn herum erfüllte. Dann sah sie, wie er den bewusstlosen Egan beim Kragen packte, hochzerrte und zu einem weiteren Schlag ausholte.
»Nein!«, ächzte sie und taumelte vorwärts, um Master Lavengeance am Ärmel zu packen.
»Sagt mir bloß nicht, dass Euch das Spaß gemacht hat«, fauchte James, während er sich bemühte, die blinde Wut zu bezwingen, die sich seiner bemächtigt hatte, als er sah, wie Egan Annora an die Mauer presste und sich an ihr rieb. Ein Wunder, dass er noch die geistige Klarheit besaß, Französisch zu sprechen.
»Männer können solche Dummköpfe sein«, murrte sie. »Nein, Ihr Narr. Einen Schlag kann man damit erklären, dass man gesehen hat, wie jemand eine Frau vergewaltigen wollte, und man nicht weiter darauf geachtet hat, um wen es sich dabei handelte. Doch alles Weitere würde wie eine sehr persönliche Feindschaft aussehen, findet Ihr nicht?«
James sah das sofort ein und ließ Egan fallen. Er stemmte die Hände in die Hüften und starrte auf den bewusstlosen Mann. Erst nach mehreren tiefen Atemzügen gelang es ihm, seiner Wut Herr zu werden, doch als sein Blick auf Annora fiel, wäre sie beinahe wieder hochgekocht. Annoras Lippen waren geschwollen und bluteten, und in ihren Augen lag eine Angst, die er noch nie bei ihr gesehen hatte. Da er Egans Ruf, sich Frauen wenn nötig mit Gewalt zu nehmen, kannte, vermutete er, dass sie davon ausgegangen war, sein nächstes Opfer zu werden.
»Seid Ihr verletzt?«, fragte er.
»Es wird wohl ein paar blaue Flecken geben, mehr nicht. Danke«, fügte sie mit leiser, bebender Stimme hinzu.
Am liebsten hätte sie geweint, auch wenn sie nicht wusste, warum; schließlich war sie gerettet worden. Sie sollte doch eigentlich erleichtert sein, und einen Anflug davon verspürte sie auch, doch weitaus stärker war die Angst. Ja, am liebsten hätte sie sich auf dem Boden zusammengerollt und wie ein Kind geweint. Erst nach einigen Momenten wurde ihr klar, was sie am meisten quälte: Egan hatte die schmale Linie überschritten, die sie bislang vor seiner Brutalität bewahrt hatte. Sie konnte sich nicht mehr mit der Annahme beruhigen, dass er sie nicht so behandeln würde, wie er viele andere schon behandelt hatte. Wahrscheinlich würde sie von nun an bei jeder Bewegung, die sie aus
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