Der Wolf aus den Highlands
hatte dieses Bedürfnis stillen können, denn Mary war immer vor Nähe zurückgewichen und nie leidenschaftlich und warm geworden. Aber vielleicht war sie auch angewidert gewesen, dachte er, doch dann verscheuchte er diesen schmerzhaften, erniedrigenden Gedanken.
Bislang war es ja nur ein Verdacht. Er wollte seine Frau nicht ohne handfeste Beweise verurteilen.
Bei dem Gedanken an Mary verspannte er sich kurz. Vielleicht war er ja noch verheiratet? Obwohl er den festen Vorsatz hatte, seine Ehe mit Mary zu beenden, falls sie noch am Leben war und ihn tatsächlich betrogen hatte, so konnte ihn das doch viel Zeit und viel Geld kosten. Aber dann schüttelte er unmerklich den Kopf. Mary war tot. Sie war vielleicht nicht an dem Tag gestorben, den sich alle vorstellten, aber er glaubte, dass Annora mit ihrem Gefühl, Mary sei nicht mehr am Leben, recht hatte. Da er bei den Murrays aufgewachsen war, einem Clan, der viele Mitglieder mit allen möglichen Gaben hatte, fiel es ihm ausgesprochen leicht, Annoras Gefühlen Glauben zu schenken.
Genauso leicht fiel es ihm, sie so heftig zu begehren, dass sich sein Körper anfühlte, als bestehe er nur noch aus geballtem heißen, schmerzenden Verlangen. Den brennenden Wunsch, sie zu besitzen, konnte sich James nicht mehr durch seine lange Enthaltsamkeit erklären. Er begehrte diese Frau so stark, so überwältigend, dass er trotz zahlreicher Angebote der Mägde von Dunncraig an seiner Enthaltsamkeit festgehalten hatte. Er hätte eine jede von ihnen irgendwo im Dunkeln besteigen können, sodass seine Tarnung gewahrt geblieben wäre. Aber er hatte seine Enthaltsamkeit einfach mit keiner anderen Frau als mit Annora MacKay beenden wollen, und wenn sie ihn nicht laut und deutlich zurückwies, würde er es jetzt tun.
»Von dem Moment an, als wir uns begegneten, habe ich mir gewünscht, meinen richtigen Namen aus deinem Mund zu hören«, sagte er leise, während er sanft an ihrem seidenweichen Ohrläppchen knabberte.
»Wir sollten das wirklich nicht tun«, wisperte sie mit bebender Stimme. Als er ihr Ohr mit Lippen und Zunge zärtlich neckte, begann sie unter einem Verlangen zu erzittern, das sie rasch jede Beherrschung verlieren ließ. »Ich sollte das nicht tun.«
»Doch, das solltest du. Du weißt ganz genau, dass du das willst. Wann hast du zum letzten Mal nach etwas gegriffen, was du haben wolltest, wann hast du zum letzten Mal überhaupt so eine Gelegenheit gehabt?«
»Es ist nicht immer klug oder richtig zu tun, was man will. Alles hat seine Folgen.«
»Welche Folgen soll es haben, wenn wir die Leidenschaft teilen, die wir beide so stark empfinden?«
»Ich bin die Folge einer solchen Kühnheit«, sagte sie leise.
»Ach, Mädchen, du bist keine Folge, du bist ein Geschenk, ein Segen. Du hörst zu sehr auf das, was Narren behaupten.« Er begann, ihr Gewand aufzuschnüren, ermutigt, als sie sich nur leicht verkrampfte und keine Anstalten machte, ihn zu hindern. »Du darfst nicht vergessen, dass diese Narren nur die Lehren der Kirche wiederholen. Und die Kirche wird von Männern beherrscht, Mädchen. Aye, manche mögen sich dazu berufen fühlen und von einem tiefen Glauben beseelt sein, aber allzu viele sind von ihrer Familie in die Kirche geschickt worden, nicht um Gott zu dienen, sondern um ein Auskommen zu finden oder einzig und allein der Macht willen.«
»Häresie«, sagte sie, doch auf einmal musste sie grinsen.
Sie merkte, dass sie bereit war, ihre Vorsicht über Bord zu werfen. Kurz überlegte sie, ob sich ihre Mutter auch so gefühlt hatte, als sie sich einen Geliebten nahm: so heiß und kühn und sich danach verzehrend, ihr Glück bei einem wunderschönen Mann zu suchen, der ihr Herz schneller schlagen ließ. Doch anders als ihre Mutter wusste Annora, dass James seinem Kind niemals den Rücken kehren würde. Das genügte ihr.
»Hast du wirklich ein Auge verloren?«, fragte sie leise und berührte sanft den Rand seiner Augenklappe.
»Verflixt, ich habe gar nicht mehr daran gedacht, dass ich dieses verfluchte Ding noch trage.« James riss sich die Klappe vom Kopf und warf sie weg. »Nay, ich habe es nicht verloren, es ist nicht einmal verletzt. Mir ist oft gesagt worden, meine grünen Augen seien unvergesslich, und ich wollte mir von meinen Augen nicht die Tarnung verderben lassen.«
»Sie sind wirklich unvergesslich.« Annora küsste den Winkel des Auges, das so lange versteckt gewesen war. »Als ich dich zum ersten Mal sah, trauerte ich über den Verlust dieses
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