Der Wolf aus den Highlands
geküsst haben.«
»Wie sollte Mary am Leben sein und so nahe wohnen, dass Meggie sie sehen kann, aber kein anderer auf Dunncraig?« James zerbrach sich den Kopf, wo sich Mary versteckt haben könnte, falls sie tatsächlich noch am Leben war. »Hätte dir Meggie denn nicht erzählt, dass sie ihre Mutter gesehen hat?«
Annora lächelte ihn traurig an. »Gleich nach Donnells Ankunft auf Dunncraig hat Meggie gelernt, nicht so viel zu reden, vor allem nicht mit Donnell. Sie hat sehr früh gelernt, ein Geheimnis für sich zu behalten. Eine traurige Lektion für ein Kind, aber ich bin froh, dass sie klug genug war, es rasch zu begreifen.«
James trat an die schmale Bogenschießscharte, der einzigen Lichtquelle in diesem Raum, und starrte hinaus, obwohl er nichts sehen konnte. Er musste über all das nachdenken, was sie gerade besprochen hatten. Wenn Mary MacKays Geliebte und seine Verbündete gewesen war, würde das erklären, wie rasch der Mann ihn zu Fall hatte bringen können. Mary wäre dann die Verräterin gewesen, die MacKay so dringend gebraucht hatte, und zwar direkt auf Dunncraig. So ungern James erwog, seiner damaligen Ehefrau gegenüber mit Blindheit geschlagen gewesen zu sein – es war an der Zeit, seinen Stolz zu vergessen. Vielleicht konnte er sich dann immerhin damit trösten, dass er sie nie richtig geliebt hatte. Das war zwar traurig, aber es bedeutete, dass er kein völliger Narr gewesen war.
Es musste jemanden auf Dunncraig geben, der zwar nicht die ganze Geschichte kannte, doch immerhin wusste, dass Mary sich MacKay zum Geliebten genommen hatte. So etwas blieb nur sehr selten ein Geheimnis. MacKay mochte ja mehr oder weniger alle getötet haben, die die Wahrheit kannten, aber irgendwo musste es noch jemanden geben, der vernünftig genug war, sein Wissen für sich zu behalten. Er fragte sich, ob das zu den Dingen gehörte, die Big Marta zu Ohren gekommen waren und deren Wahrheitsgehalt sie nun herausfinden wollte.
Leise fluchend gestand er sich ein, dass er, statt der Wahrheit näher zu kommen, inzwischen in einem immer wirrer werdenden Netz von Lug und Trug verwickelt war. Abgesehen von ein paar hübschen Träumen war er zwar nie so einfältig gewesen zu glauben, dass er im Handumdrehen die Wahrheit aufdecken und für unschuldig befunden werden könnte, doch er hätte nie gedacht, dass sich die Sache als derart schwierig erweisen würde. Immerhin gewann er nach und nach ein paar Verbündete. Wenn ein paar weitere Leute Augen und Ohren aufsperrten, fand er vielleicht doch bald einmal, was er brauchte.
Annora beobachtete James, während er aus dem schmalen hohen Fenster starrte. Ihr war klar, dass es keinen Unterschied machte, ob er etwas sah oder nicht, denn er war ausschließlich mit seinen Gedanken beschäftigt. Leise und nicht nur um ihrer selbst willen betete sie, dass er seine Frau nicht allzu sehr geliebt hatte. Ihr Instinkt sagte ihr, dass Mary, von der alle behaupteten, sie sei süß und schüchtern gewesen, mit im Komplott stand, das James um alles gebracht hatte. Es musste ein bitterer Trank sein für einen solch stolzen Mann.
Sie betrachtete seinen breiten, muskulösen Rücken und fragte sich, ob sie ihn daran erinnern sollte, dass er nach wie vor fast nackt war. Aus reiner Selbstsucht entschied sie sich dagegen. Es war einfach zu schön, ihn so zu betrachten. Angesichts all der düsteren, traurigen Dinge, über die sie nachdenken und reden mussten, fand sie es verzeihlich, wenn sie sich diese kleine Freude gönnte.
Mit einer Freiheit, die sie sich nie genommen hätte, wenn er sie angesehen hätte, ließ Annora ihre Blicke über seinen wohlgeformten Körper wandern. Gleichzeitig versuchte sie, darüber nachzudenken, was nun zu tun war, um einige der vielen drängenden Fragen zu beantworten. Außerdem durfte sie nicht vergessen, dass James Drummond, falls Mary noch lebte, ein verheirateter Mann war, und dass sie nicht hier herumsitzen und sinnieren sollte, wie gern sie seine glatte Haut mit Küssen bedeckt hätte.
Sie verdrehte die Augen. Welche Frau würde den Anblick nicht genießen, der sich ihr gerade bot? Und welche Frau wäre so kalt, dass sie der Anblick eines fast nackten James Drummond nicht erregen würde? Doch andererseits – falls das stimmte, was sie allmählich immer stärker vermutete, war Mary so ungerührt gewesen, dass sie diesen Mann ausgerechnet mit Donnell betrogen hatte. Es war kaum zu glauben, doch Annora hatte oft genug erlebt, wie töricht Frauen sein
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