Der Wolf aus den Highlands
konnten, wenn es um Männer ging, sodass sie es zumindest erwägen musste.
Einen Moment lang schloss sie die Augen, entspannte ihren Körper und versenkte sich. Ab und zu hatte sie in solchen Momenten eine Eingebung. Sie konnte es sich zwar nicht erklären, doch es schien ziemlich häufig so zu sein. Und wenn sie eine Erkenntnis hatte, dann war sie richtig. Ein sicherer Instinkt sagte ihr, dass Mary James hintergangen hatte, doch nun kam noch eine Erkenntnis hinzu: Mary war tot.
»Wir müssen herausfinden, wo sich Mary versteckt«, sagte James schließlich und wandte sich wieder Annora zu.
»Ich glaube nicht, dass uns das gelingen wird«, sagte Annora leise und blinzelte heftig, während sie wieder in die Wirklichkeit zurückkehrte.
James trat zu ihr ans Bett und runzelte die Stirn. »Warum sagst du das? Ist dir gerade etwas Wichtiges eingefallen?«
»Nein, mir ist nichts eingefallen. Ich habe es gespürt.«
»Gespürt?«
»Jawohl. Manchmal kann ich Dinge spüren.« So ungern sie ihm so etwas erzählte, es gab keinen anderen Weg, um die Gewissheit zu erklären, die sie verspürte. »Ich spüre deutlich, dass Mary tot ist. Sie ist zwar nicht in jenem Feuer umgekommen, aber jetzt ist sie tot.«
Zu ihrer Überraschung machte er sich nicht über sie lustig und bekreuzigte sich auch nicht zum Schutz gegen das Böse, wie es manche Leute taten, wenn sie auf jemanden mit solchen Gaben stießen. Vielmehr fragte er ganz ruhig: »Hast du eine Vision gehabt?«
Annora war so überrascht über seinen Mangel an Angst oder Verachtung, dass sie beinahe aufgekeucht hätte. »Nein, keine richtige Vision«, erwiderte sie, als sie sich wieder gefasst hatte. Nun musste sie ihm wohl oder übel doch alles erzählen. »Manchmal, wenn ich alle Gedanken aus meinem Kopf verbanne und mich entspanne, kann ich Dinge spüren. Ich spüre, dass Mary tot ist. Sie wusste zu viel.«
James’ Miene verdüsterte sich, während er zustimmend nickte. »Aye, das hat sie, und Leute, die zu viel über MacKay und seine Verbrechen wissen, pflegen zu sterben.«
»Ganz genau. Er konnte sie nicht am Leben lassen. Vielleicht hat sie ihn zu sehr zu etwas gedrängt, bevor er bereit war, es zu tun. Mein Cousin reagiert sehr gewalttätig, wenn er bedrängt wird.«
»Das habe ich auch schon gehört. Und wenn Mary tatsächlich seine Verbündete bei seinem Komplott gegen mich war, hat sie wahrscheinlich erwartet, dass er sie zu seiner Frau macht.«
»Aber du bist nicht gestorben, und deshalb blieb sie mit dir verheiratet.«
Er nickte langsam, froh darüber, dass sie einander helfen konnten, indem sie alle Möglichkeiten durchdachten. »Und deshalb hat sie wahrscheinlich angefangen, ihn zu bedrängen, etwas zu tun, um sie zur Witwe zu machen. Dann hätte sie ihn heiraten und wieder zur Lady von Dunncraig werden können.«
»Aber dazu konnte er es natürlich nicht kommen lassen, schließlich hatte er dich wegen des Mordes an ihr verurteilen lassen.«
»Und wenn sie dann gesund und munter auf Dunncraig Keep aufgetaucht wäre, wäre er als Lügner dagestanden. Dass er mit seiner Täuschung einen Laird ruiniert und dessen Land an sich gerissen hat, hätte ihn mit Sicherheit an den Galgen gebracht. Nay, Mary durfte nicht weiterleben.«
Annora schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht – es klingt alles richtig, und dennoch kann ich kaum glauben, dass es ein derart raffiniertes Komplott gegen dich gegeben hat.«
»Aber es musste raffiniert sein und sehr ausgeklügelt. Ich habe nie etwas getan, was ein solch schnelles, hartes Urteil rechtfertigte. Ich habe einzig und allein lässliche Sünden begangen, so wie die meisten Menschen – Sünden, die ein Priester mit ein paar Bußübungen bestraft. MacKay musste sehr raffiniert sein, um zu erreichen, dass ich geächtet wurde, vor allem, da meine Familie nicht ganz machtlos ist. Doch sie wurden völlig überrumpelt und hatten keine Chance, gegen das Urteil vorzugehen.«
»Hätten sie das denn tun können?«
»Oh ja, ich glaube schon. Das Gericht hätte sich zumindest die Entscheidung vorbehalten können und uns jede Zeit geben, die Wahrheit herauszufinden. Ich vermute, das wusste MacKay, und deshalb hat er so verstohlen und schnell gehandelt.«
Sie nickte. »Aye, mein Cousin weiß ganz genau, wer Macht hat, wie man sie einsetzt und wie man sie umgeht.«
James starrte sie an, während sie dasaß und die Stirn runzelte, wahrscheinlich ob der Perfidie ihres Cousins. Er fand, dass sie jetzt genug geredet hatten.
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