Der Wolf aus den Highlands
in Verbindung zu treten. Doch dann sah sie hoch und entdeckte dicke, dunkle Wolken, die rasch den blauen Himmel verdüsterten und einen heftigen Sturm versprachen. Sie stand auf, steckte das Buch in eine in ihren Röcken verborgene Tasche und machte sich auf den Weg zurück zum Keep. Für den Fall, dass jemand sie so allein außerhalb der Mauern ertappte und fragte, was sie am Bach zu suchen habe, blieb sie ab und zu stehen und sammelte ein paar Heilpflanzen. Das wäre eine hinreichende Entschuldigung. Es war so leicht, solche Pflanzen zu finden, dass sie daran dachte, häufiger an den Bach zu gehen und herauszufinden, wie groß die Fülle an Heilpflanzen hier tatsächlich war – vorausgesetzt, sie schaffte es, ihre Angst vor dem Wasser zu bezwingen.
Je näher sie Dunncraig kam, desto mehr Gedanken machte sie sich darüber, was sie James erzählen sollte. Dieses Buch würde sie ihm jedenfalls nicht verheimlichen können, es enthielt die ganze hässliche Wahrheit über Donnells Täuschung und Verrat. Außerdem bewies es, dass James seine Frau nicht getötet hatte. Mary hatte fast noch ein ganzes Jahr gelebt, nachdem James des Mordes an ihr für schuldig befunden und geächtet worden war. Doch da er sich danach hatte verstecken und um sein Leben hatte rennen müssen, würde es ihm schwerfallen zu beweisen, dass er sich nicht in der Nähe von Dunncraig aufgehalten hatte, als Mary ihren letzten Tagebucheintrag machte, der von ihrer Angst erzählte, von dem Mann, den sie viele Jahre geliebt hatte, getötet zu werden. Allerdings schloss Annora aus dem, was James ihr über sein Gespräch mit seinem Bruder und dem Mann des Königs berichtet hatte, dass ihm daraus kaum Schwierigkeiten erwachsen würden. Die Männer, die James’ Exil beenden konnten, zweifelten offenkundig schon jetzt an Donnells Aussage. Donnell wurde in dem Tagebuch zwar nur von Marys wachsender Todesangst belastet, dennoch war sich Annora sicher, dass mehr als genug in dem Tagebuch stand, um Donnell aus Dunncraig zu vertreiben.
Sie war so versunken in ihre Gedanken, wie das Tagebuch James helfen konnte, dass sie beinahe mit Donnell zusammengestoßen wäre, als sie den Keep betrat. Sie konnte nur hoffen, dass Donnell den plötzlich aufgekommenen kalten Wind für den Verursacher der Röte hielt, die ihr heiß ins Gesicht schoss. Schließlich war sie nicht nur ein weiteres Mal ihren Bewachern entwischt und hatte sich außerhalb der Mauern herumgetrieben, sondern hatte auch noch ein Büchlein in ihrer Tasche, das sehr wahrscheinlich half, Donnell an den Galgen zu bringen. Es war nicht leicht, einem Mann in die Augen zu sehen, wenn man alles tat, damit er gehängt würde, dachte Annora, selbst wenn er diese Strafe verdiente.
»Wo wart Ihr?«, fragte er und musterte missbilligend ihren Umhang. »Und warum tragt Ihr diesen abgerissenen Lumpen?«
»Ich war im Wald«, erwiderte sie, ohne auf seine Kritik an ihrer Kleidung einzugehen.
»Ohne Eure Wächter. Wieder einmal!«
Der Argwohn in seiner Stimme und in seinem scheelen Blick ließ Annora erzittern, doch sie zwang sich, so ruhig zu wirken wie ein See an einem windstillen Tag. »Ich vergesse gelegentlich, Euren Männern zu sagen, wohin ich gehe.«
»Nun, ich schlage vor, Ihr versucht, das nicht mehr zu tun. Und jetzt kommt mit in mein Arbeitszimmer, wir müssen reden.«
Unheil verkündende Worte, dachte Annora, während sie ihm folgte. Bei jedem Schritt streifte das Tagebuch ihren Oberschenkel und erinnerte sie daran, dass sie ein machtvolles Geheimnis wahren musste. Nur mit großer Mühe konnte sie ihre wachsende Angst verbergen; denn wenn Donnell das Buch fand, wäre ihr Leben in Gefahr. Und außerdem würde James die erste brauchbare Quelle verlieren, die die Wahrheit beweisen konnte, nach der er so eifrig suchte.
In Donnells Arbeitszimmer angekommen, stellte sie sich stumm vor seinen großen Tisch, während er sich dahinter niederließ. Er faltete seine grobschlächtigen Hände auf dem Arbeitstisch und starrte sie wortlos an. So etwas tat er oft. Annora war sich sicher, dass er ihr damit Angst einjagen oder sie beunruhigen wollte. Das gelang ihm auch meist, wenn auch nicht mehr so häufig wie in ihren ersten Monaten auf Dunncraig. Sie begegnete seinem unverwandten Blick mit erzwungener Ruhe.
»Ihr seid inzwischen vierundzwanzig, stimmt’s?«, sagte er schließlich.
»Seit zwei Monaten.«
»Höchste Zeit, dass Ihr heiratet, findet Ihr nicht?«
»Ich habe einem Gemahl nichts zu bieten, kein Land,
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