Der Wolf aus den Highlands
Angst vor Wasser eines Tages sogar ablegen könnte, hielt sich aber nicht länger mit dieser Frage auf: Sie hatte jetzt keine Zeit, sich über all ihre Ängste und traurigen Kindheitserinnerungen den Kopf zu zerbrechen.
Als sie an einem schattigen Hain angelangt war, wusste sie, dass sie Marys Platz gefunden hatte. Er befand sich ein paar Yards abseits der Stelle, wo der schmale Pfad, der von der Burg hinunterführte, auf den Bach stieß. Annora spürte mit allen Fasern, vor einer wichtigen Entdeckung zu stehen. Ihr war zwar klar, dass es töricht war, sich allzu viele Hoffnungen zu machen, doch ihr Instinkt sagte ihr, dass sich Hinweise zu Marys Schicksal in ihrer Reichweite befanden. Sie fragte sich, ob sie auch die Gabe hatte, Dinge zu finden. Das hatte sie tatsächlich immer sehr gut gekonnt, aber noch nie war es so wichtig gewesen wie jetzt.
Der schattige Hain, den Mary wahrscheinlich häufig aufgesucht hatte, war ein hübscher, von großen, alten Bäumen eingefriedeter Platz. Nicht einmal von Dunncraigs höchstem Turm aus hätte man sie hier sehen können. Der Ort war perfekt, um einen Liebhaber zu treffen, vor allem, wenn man für tot gehalten wurde. Wenn Mary sich entsprechend gekleidet hatte, wäre jeder, der sie getroffen hätte, davon ausgegangen, dass sie eine Magd war, die am Bach ihren Liebsten treffen wollte. Und wer glaubte, sie zu erkennen, hätte wahrscheinlich befürchtet, einen Geist zu sehen.
Zuerst untersuchte Annora jeden der Bäume nach einem Loch im Stamm, ähnlich dem, in dem Meggie das erste Tagebuch gefunden hatte. Zu ihrer großen Enttäuschung musste Annora feststellen, dass es hier nichts dergleichen gab. So einfach sollte ihr die Sache wohl nicht gemacht werden, aber das war ja kaum zu erwarten gewesen. Als Nächstes suchte sie an den über dem Erdboden liegenden Wurzeln der Bäume nach einer kleinen Höhle, in der man ein Buch verstecken könnte, doch auch diese Suche verlief erfolglos.
Sie wollte schon fast aufgeben, als ihr Blick auf zwei große, flache Steine nahe dem Ufer fiel. Sie bildeten eine Art Sitz, auf dem man sich niederlassen und dem Bach zusehen konnte, wie er an einem vorbeisprudelte. Mary hatte sich wohl viel Mühe gegeben – oder einen anderen dazu gebracht –, dafür zu sorgen, dass ihre Röcke nicht feucht und schmutzig wurden. Auf einmal verspürte Annora eine große Sicherheit und erstarrte. Sie kam sich vor wie ein Hund, der seine Beute wittert. Sie kniete nieder, um die Steine genauer zu untersuchen.
Verblüfft von ihrer Kraft, hievte sie einen Stein hoch, doch darunter kamen nur Erde und allerlei krabbelndes Getier zum Vorschein. Rasch ließ sie den Stein fallen und begann, den zweiten hochzustemmen. Sobald es ihr gelungen war, war sie so überrascht von dem, was sie zu sehen bekam, dass sie den Stein sofort wieder fallen ließ. Nur mit großer Mühe gelang es ihr, ihn ein weiteres Mal so weit zu bewegen, dass sie ihn ein wenig zur Seite schieben konnte. Zum Vorschein kam ein teilweise in der Erde vergrabenes, in geöltes Leder eingewickeltes Päckchen, ähnlich dem, das Meggie gefunden hatte.
Annora grub das Päckchen vorsichtig aus, dann schob sie den Stein wieder auf seinen alten Platz zurück. Da sie fürchtete, dass dieses Buch nicht so gut vor Feuchtigkeit und anderen Widrigkeiten geschützt gewesen war, wickelte sie es äußerst behutsam aus. Als sie sah, dass es nahezu so gut erhalten war wie das erste, sprach Annora ein leises Dankgebet. Bevor sie das Tagebuch aufschlug, wusch sie sich die Hände in dem eisigen Bachwasser und trocknete sie sorgfältig an ihren Röcken ab. Dann setzte sie sich auf den Stein, der das Büchlein so lange geschützt hatte, und begann zu lesen.
Als sie ihre Lektüre beendet hatte, legte sie das Tagebuch auf den Schoß und wischte die Tränen von den Wangen, die ihr, ohne zu wissen, warum, gekommen waren. Zwischen all den Klagen und langen, weitschweifigen Darstellungen, triefend von Selbstmitleid, stand die Geschichte eines Verrats. Mary hatte James hintergangen, und Donnell hatte Mary hintergangen. Es war wahrhaftig zum Heulen.
»Törichte Frau«, wisperte sie. »Du hast alles Gute in deinem Leben aufgegeben für einen Mann, der dich nie geliebt hat und dich mit einem namenlosen, ungeweihten Grab entlohnt hat.«
Annora erzitterte bei dem kühlen Wind, der sie plötzlich umwehte. Es hieß immer, man solle über die Toten nicht schlecht reden. Einen Moment lang fürchtete sie, Marys Geist könnte versuchen, mit ihr
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