Der Wolf
am nächsten Morgen wohl nur durch die Schilderung
eines blutigen Angriffs einigermaßen glaubhaft wiedergegeben werden.
Doch so ganz unabhängig vom Verhalten des Wolfes
kann die seit dem frühen Mittelalter gängige Erwartungshaltung nicht gewesen sein. Allzu zahlreich sind die einschlägigen Meldungen, allzu groß war die Furcht vor diesem Tier, allzu dominant dessen Stellung in der Mythologie jener Zeit, als daß wir alles nur der reichen Phantasie
unserer Vorfahren zuschreiben könnten. So häufen sich
Nachrichten von Wolfsüberfällen auffällig in Zeiten langer
Kriege, politischer Unruhen und Hungersnöte. Während
des Hundertjährigen Krieges zwischen England und Frankreich (1337–1453), einer Zeit allgemeiner Instabilität, wird
mehrmals von Wölfen berichtet, die sogar bis ins Zentrum
von Paris vordrangen und hier Nahrung stahlen, Hunde
töteten und manchmal auch Menschen fraßen. Im Frühjahr 1421 zum Beispiel war es in Paris sehr kalt. Die Bevölkerung darbte, und viele Menschen starben Hungers. Auch
die Wölfe waren so ausgehungert, daß sie eilends begrabene
Leichen hervorscharrten und verschlangen. Nachts rannten
sie durch die Gassen, und mehrmals schwammen sie sogar
über die Seine. Zuletzt begnügten sie sich nicht mehr mit
den Toten, sondern griffen auch die Lebenden an, namentlich Frauen und Kinder. So sollen sie ein kleines Mädchen
auf der Place aux Chats hinter der Rue des Innocents aufgefressen haben. Ein andermal waren gar siebzehn Menschen in nur einer Nacht ihr Opfer ; elf von ihnen erlagen
ihren schweren Verletzungen, wie in dem berühmten »Tagebuch eines Pariser Bürgers« für die damalige Zeit auffällig
sachlich berichtet wird. Einige Wölfe wurden getötet und
an den Hinterbeinen aufgehängt durch die Straßen getragen. Daraufhin spendeten die Bürger dem Jäger Geld, ein
Brauch, »quête du loup« genannt, der sich in Frankreich
bis ins 19. Jahrhundert hielt.
Am meisten unter Wölfen zu leiden hatten die Franzosen aber einige Jahrhunderte später, nach dem für Frankreich unrühmlichen Ende des Siebenjährigen Krieges gegen
Preußen (1756–1763). Das Land war von großen Unruhen
heimgesucht, die Staatsfinanzen waren zerrüttet, die Landbevölkerung verarmt. Im Frühjahr 1764 hörte man erstmals
von einer »Bestie« bei Gévaudan, welche die Herden der
Schäfer überfalle. Bald sprach man im Languedoc und in
der Auvergne nur noch von »La Bestio«, anderswo von der
»Bestie von Gévaudan«, die in den folgenden Jahren nicht
nur unter den Haustieren wütete, sondern auch mehr als
hundert Menschen getötet haben soll. Beschrieben wird sie
als »groß wie ein Kalb, mit breitem Kopf und einer spitzen
Windhundschnauze« ; ihr Fell soll rötlich mit schwarzen
Streifen gewesen sein, die Brust ganz breit und die Hinterbeine etwas länger als die Vorderbeine.
Das sind alles für einen Wolf ungewöhnliche Merkmale,
die eher auf einen Hund oder auch auf einen Bastard schließen lassen. Was für ein Tier die menschenfressende Bestie
wirklich war, werden wir jedoch nie erfahren, auch nicht, wie
viele Menschen von ihr tatsächlich getötet wurden. Durch
unzählige Gespräche in der Küche und am Kamin sowie
eine Vielzahl von Bilderbogen und »fliegenden Blättern«
verbreitet, wurde die Kunde von dem Geschehen bald in
ganz Frankreich zum großen Ereignis miterlebter Urängste. Überall, bei Hofe wie in der Hütte, wurde sie nacherzählt und um weitere schreckliche Details vermehrt. In der
Gegend um Gévaudan brach Panik aus, denn die Ereignisse überstürzten sich. In der Pfarrei Aumont fraß das
Untier eine Witwe auf, bald danach sieben Hirtenkinder.
Mehrmals wurden Soldaten in das Gebiet entsandt – ohne
Erfolg. Die berühmtesten Wolfsjäger der Zeit kamen angereist – einer von ihnen hatte angeblich zuvor in der Normandie eintausendzweihundert Wölfe getötet –, doch das
»Morden« bei Gévaudan ging weiter. Auch Treibjagden mit
mehr als zwanzigtausend Bauern waren vergeblich. Inzwischen hatte König Ludwig XV. sechstausend Livres demjenigen versprochen, der die Bestie tötete. Doch wie zum
Hohn fiel diese nun sogar am hellichten Tag ihre Opfer an
und verstümmelte sie furchtbar. Die Berichte davon breiteten sich in Windeseile aus und erfuhren immer neue Ausschmückungen. Schließlich gelang es, einen auffällig gro
Die Bestie von Gévaudan.
ßen Wolf zu erlegen, später auch sein Weibchen samt den
Jungen. Man glaubte, das Ende der Qual sei gekommen.
Doch bald wurden neue
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