Der Wolf
Diphtherie, eine Krankheit, die den Hals »einschnürt«,
als »Warcgingil«, nannte man den ausgestoßenen, friedlosen Verbrecher »Warg, Warag, Wearg, Wearh«, gleich Räuber, Verbrecher, Friedloser, Ungeheuer, Böser, Verdammter.
Ähnlich dem Wolf lebte er rastlos im Wald. Nach damaliger
Rechtsprechung durfte niemand ihn beherbergen oder ihm
helfen, und jedermann konnte ihn erschlagen. Der Umstand,
daß der Wolf und der zur Friedlosigkeit verdammte Verbrecher ein und dieselbe Bezeichnung tragen, hat in der philologischen und der rechtsgeschichtlichen Literatur reichhaltigen Niederschlag gefunden, wobei es vor allem um
die Frage geht, wer nach wem benannt wurde. Für Wilhelm Grimm leitete sich die Bezeichnung der Friedlosigkeit
als Strafe für den Übeltäter von jener des friedlosen Wolfes ab, während heutige Sprachforscher der Meinung sind,
daß das Tier seinen Namen in Anlehnung an den gesetzlosen Menschen bekam. Demnach wurde aus dem Wildtier Wolf erst im nachhinein und im Zusammenhang mit
seiner zunehmenden Abhängigkeit von Mensch und Haustier zu Beginn des Mittelalters der Friedlose.
Neben diesen sprachlichen Hinweisen auf einen Zusammenhang zwischen dem Wolf und dem Leichenschänder
deuten so manche Berichte darauf hin, daß Wölfe in der Tat
menschliche Leichen nicht nur gefressen, sondern sogar ausgegraben haben. Zur Zeit Maria Stuarts soll in Schottland
die Wolfsplage so groß gewesen sein, daß man die Toten gar
nicht erst auf Friedhöfen begrub, sondern sie notdürftig auf
Inseln im Meer bestattete, bis man der Wölfe wieder Herr
wurde. Auch aus Nordamerika liegen einschlägige Nachrichten vor ; als um die Mitte des 19. Jahrhunderts in Kalifornien Gold gefunden wurde und zahlreiche Menschen auf
dem Weg dorthin am Gelbfieber starben, sollen dort Wölfe
viele Leichen gefressen haben. – So gehen sicherlich nicht
wenige Berichte von Wolfsüberfällen darauf zurück, daß
Wölfe menschliche Leichname verschlangen ; in der Folge
machte man sie dann selbst für den Tod dieser Menschen
verantwortlich. Unter der Voraussetzung, daß Wölfe sich
an lebende wie an tote Menschen gewöhnt hatten und auch
in der Lage waren, zwischen gefährlichen und ungefährlichen Menschen zu unterscheiden, erscheint es möglich,
daß Wölfe in seltenen Fällen tatsächlich lebende Menschen
angegriffen haben. Dies kann der Fall gewesen sein,
– wenn in Zeiten von Kriegen, Seuchen oder Hungersnöten menschliche Leichen nicht sogleich oder nicht sicher
genug vergraben wurden ;
– wenn die Verfolgung der Wölfe lange Zeit nachgelassen hatte, weil die Männer im Krieg waren oder nicht mehr
lebten ;
– wenn die Frauen und die Alten allein und unbewaffnet zu
Hause blieben und die Kinder das Vieh hüten mußten ;
– wenn den Wölfen andere Beute fehlte und ihr Hunger groß war.
Solche Bedingungen gab es in Europa besonders im Mittelalter. Daher dürften sich die meisten Überfälle von Wölfen auf Menschen – wenn überhaupt – während dieser Zeit
zugetragen haben. Mit der besseren Bewaffnung der Menschen und der stärkeren Verfolgung des Wolfes in den folgenden Jahrhunderten wurde die Gefahr dann immer geringer, und Überfälle wurden entsprechend seltener. Heute
sind derartige Bedingungen in Europa nirgendwo auch
nur ansatzweise gegeben. Wolfsüberfälle sind bei uns nicht
mehr aktuell, ja nahezu undenkbar. Auch in Nordamerika
sind und waren die Verhältnisse niemals so, daß von Wölfen eine Gefahr für Menschen hätte ausgehen können, und
zwar zu Zeiten der Indianer ebenso wie danach ; das erklärt
das völlige Fehlen glaubwürdiger Berichte über Wolfsüberfälle auf dem Subkontinent.
Doch nicht überall im Verbreitungsgebiet des Wolfes ist
die Entwicklung so weit fortgeschritten wie beiderseits des
Atlantiks. In anderen Weltgegenden gleichen die Lebensbedingungen der Menschen von heute noch großenteils
jenen ihrer Vorfahren in früheren Jahrhunderten. So wird
in Indien noch immer vom »child lifting« der dortigen
Wölfe berichtet ; daß Wölfe kleine Kinder rauben sollen,
ist für uns kaum vorstellbar, für meine indischen Kollegen aber bar jeden Zweifels. Aus Indien stammen auch die
meisten Berichte über Wolfskinder, an deren Existenz man
dort ebenfalls fest glaubt, während bei uns die Geschichte
etwa von Romulus und Remus zu Recht in den Bereich
der Sage fällt.
Bei der langsamen, jahrelangen Entwicklung des Säuglings im Vergleich zu der kurzen Laktationszeit einer Wölfin von maximal zehn bis
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