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Der Wolf

Der Wolf

Titel: Der Wolf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erik Zimen
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Grube zu springen und
das Weite zu suchen.
    Großer Beliebtheit erfreut sich besonders in England die
Erzählung von jenem einsamen Soldaten – manchmal ist
es auch ein Postbote –, der in kalter Winternacht im Moor
von Wölfen überfallen wird. Zuerst gelingt es ihm, mit dem
Schwert mehrere Tiere zu töten. Daraufhin ziehen sich die
übrigen Wölfe zurück, und der Mann steckt sein Schwert
wieder in die Scheide. Doch das hätte er nicht tun sollen,
denn die Wölfe greifen erneut an, und nun ist sein blutiges Schwert in der Scheide festgefroren. So wird er doch
getötet und gefressen. Nur sein Schwert bleibt zurück als
»Beweis« für das tragische Geschehen.
    Tausendfach abgewandelt wurde auch die beliebte russische Mär von ganzen Rudeln wütend heulender Wölfe,
welche die durch die Winternacht dahinsprengende Troika
verfolgen. Bei dem nordamerikanischen Pendant dazu ist
    Zeitgenössische Darstellung eines Wolfsangriffs in Rußland
(19. Jahrhundert).
    es der einsame Held, der sich gewehrkolbenschwingend am
Lagerfeuer gegen die von allen Seiten angreifenden Wöl
fe verteidigt.
    So lassen sich zahlreiche Berichte von Wolfsüberfällen
von vornherein als Nacherzählung einer althergebrachen
Standardbeschreibung wölfischer Angriffstaktiken erkennen
und somit dem Bereich der Phantasie zuordnen. Bei vielen
anderen Geschichten werden zudem die gängigen Interpretationen unkritisch übernommen. Ist ein Kind getötet
worden, sind es natürlich Wölfe gewesen. Die viel wahrscheinlichere Möglichkeit, daß es sich um Hunde gehandelt hatte, wird gar nicht in Erwägung gezogen. Auch die
irgendwo in der Wildnis aufgefundenen zerfetzten Überreste eines Menschen zeugen selbstverständlich von einem
Wolfsangriff. Daß der Mann einem Herzschlag erlegen sein
könnte und seine Leiche erst später von Bären, Füchsen,
vielleicht durchaus auch von Wölfen angefressen wurde –
eine erheblich wahrscheinlichere Erklärung –, geht in der
allgemeinen Aufregung unter.
    Ein paarmal war ich selber Zeuge, wie solche Gerüchte
entstanden. Da war die erst acht Wochen alte Anfa, aus der
ein »böses sibirisches Ungeheuer« wurde, und der Junge
im Bayerischen Wald, der einige Kratzer am Po abbekommen hatte und als »zerfleischtes Kind« Schlagzeilen machte.
Auch einer der alljährlich im Winter wiederkehrenden Zeitungsmeldungen der Art : »Wölfe überfallen Dorf« oder
»Große Kälte treibt Wölfe aus den Bergen« konnte ich einmal nachgehen. In Deutschland las ich die Meldung von
einem fünfzigköpfigen Wolfsrudel, das angeblich ein Dorf
in den Abruzzen belagerte. Wenige Tage später fuhr ich
selber dorthin und fand heraus, was geschehen war. Die
dpa-Meldung aus Rom ging auf einen langen Artikel in »Il
Messagero d’Abruzzo« zurück. Darin wurde der übliche
Streit zwischen Kapital und Naturschutz in einem Dorf im
Gran-Sasso-Gebiet geschildert. Einige Dorfbewohner wollten ein neues Skigebiet erschließen lassen, und die Naturschützer waren dagegen. Nebenher wurde von den Befürwortern auch das Engagement des WWF für die Wölfe kritisch erwähnt. In diesem Jahr, so hieß es, hätten die Dörfler
durch Wölfe erheblichen Schaden erlitten (zum erstenmal
seit langem) und müßten jetzt verstärkt ihre Viehherden
bewachen. Einer von ihnen verstieg sich zu der Behauptung, es müßten mindestens fünfzig Wölfe sein, und auch
die Dorfkinder seien nicht mehr sicher.
    Diese eine Aussage unter vielen in einem Artikel über
ganz andere Fragen war wohl dem dpa-Korrespondenten
in Rom aufgefallen. Zur »Kurzinformation« umgewandelt,
ging die »Nachricht« von den fünfzig Wölfen wenige Stunden später über Fernschreiber bei den deutschen Zeitungsredaktionen ein, wo sie, für die Jahreszeit passend, wortgetreu nachgedruckt wurde. Zeitungen zu verlegen und täglich füllen zu müssen ist ein Geschäft, und der Verkauf von
Informationen auch. Wen interessiert da die Wahrheit?
    Übertreibungen, Sensationslust, Lüge, Geschäft – gewiß
keine Phänomene nur des 20. Jahrhunderts. Eine bestimmte
Erwartungshaltung in bezug auf Wölfe wurde in allen
Jahrhunderten befriedigt, je nach den Bedürfnissen der
Zeit und kaum beeinflußt vom wirklichen Verhalten des
Wolfes. Das subjektive Erlebnis, der Schrecken und die
Angst, die das nächtliche Heulen eines Wolfsrudels den
Menschen einjagten, die von der Gefährlichkeit des Wolfes, ja früher sogar von seinem Pakt mit dem Teufel überzeugt waren und sich daher in größter Not fühlten, konnten

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