Der Wolf
blutrünstige Taten gemeldet.
Ein kleines Mädchen wurde von »einem wilden Tier, dessen Namen und Art man nicht genau beschreiben kann«
gerissen. Wenig später hieß es, das Ungeheuer habe einen
achtjährigen Jungen in den Wald getragen und ihm die
Halsschlagader durchgebissen. Inzwischen zählte man achtundsechzig tote Frauen und weit über hundert Kinder unter fünfzehn Jahren, die, meistens beim Viehhüten in den
Wäldern und Bergen, getötet worden waren – allesamt Opfer
der Bestie. Nachdem jedoch am 19. Juni 1767 bei einer neuerlichen großangelegten Treibjagd ein riesiger Wolf, wie es
heißt, zur Strecke gebracht worden war, kam es zu keinen
Überfällen mehr. Der Wolf wurde einbalsamiert und an den
Hof nach Versailles geschickt, wo er jedoch infolge der herrschenden Wärme stark zersetzt und verwest ankam. Daher
erhielt weder der erfolgreiche Jäger seine Belohnung noch
die Nachwelt Aufschluß über die wirkliche Natur des Tieres.
– So sind die Spekulationen über jene Vorgänge bis heute
nicht abgebrochen. Von einem Sadisten im Blutrausch war
die Rede, auch von einem Wahnsinnigen, der unter dem
Deckmantel der »Bestie« die Morde begangen habe. Vieles
spricht indes dafür, daß es sich wirklich um eines oder um
mehrere große Tiere gehandelt hat, vielleicht Wölfe, vielleicht aber auch aus der einmaligen Paarung einer Wölfin und eines besonders großen Hundes hervorgegangene
Wurfgeschwister. Für letzteres spricht die häufig wiederkehrende Beschreibung der »Bestie« als auffallend groß, breitbrüstig und von rötlicher Färbung mit schwarzen Streifen.
Auch die beiden heller gefärbten Bastarde in den Abruzzen hatten auffallende schwarze Streifen im Fell.
Gut hundert Jahre später sollte es in Finnland zu ähnlichen Vorfällen kommen. In den sogenannten Wolfsjahren
1880 und 1881 wurden den Berichten nach in der Gegend
von Turku zweiundzwanzig Kinder im Alter von zwei bis
neun Jahren von Wölfen getötet. Auch hier war die Unruhe
in der Bevölkerung groß und die Jagd auf die Übeltäter
anfänglich ebenso intensiv wie erfolglos. Unterdes wurden die Räuber immer dreister. Erst als schließlich mehrere besonders große Wölfe erlegt worden waren, hörte der
Spuk schlagartig auf.
Nachrichten über Greueltaten von Wölfen häuften sich
in Deutschland zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges (1618–
1648), in Schweden nach den vielen Kriegszügen und dem
Tod König Karls XII. (1712), in Frankreich erneut nach der
Revolution und zur Zeit Napoleons, in Rußland während des
Ersten Weltkrieges und der anschließenden Revolutionsjahre
sowie im Zweiten Weltkrieg. Meistens wird von direkten
Angriffen berichtet, manchmal auch von Leichen, die von
Wölfen gefressen worden seien. Auf jeden Fall scheint es,
daß die Wölfe in diesen Zeiten sich nicht nur, dank nachlassender Verfolgung, stark vermehrten, sondern einige
von ihnen auch ungewöhnlich dreist waren.
Sollten Wölfe also doch ihre normalerweise panische Angst
vor ihrem Feind, dem Menschen, verlieren, ja diesen gar als
Beute betrachten können ? Hält man sich ihre große Fluchtdistanz auf freier Wildbahn vor Augen, erscheint das kaum
möglich. Nachts allerdings verhalten sie sich auffällig anders,
wie wir etwa in den Abruzzen erlebt haben. Es ist dort nicht
ungewöhnlich, daß Wölfe bei Nacht ohne größere Scheu
mitten durch ein Dorf, über den Hof eines Bauern laufen.
Der Wolf hat seine tausendjährige Verfolgung nur deshalb
überleben können, weil er die Gewohnheiten des Menschen
genau kennt und weiß, wann dieser ihm gefährlich werden
kann und wann nicht. Und nachts ist er jedem Menschen
zumindest hinsichtlich der Orientierung überlegen. – Aus
einem gelegentlichen Dorfbesucher muß freilich noch lange
nicht ein Menschenfresser werden. Welche Bedingungen
müssen hierfür wohl erfüllt werden ?
Schon in dem um 500 n. Chr. niedergelegten, in rohem
Latein abgefaßten salischen Gesetz der Franken wurde das
germanisch-latinisierte Wort »Wargus« für den Leichenschänder benutzt ; es heißt da: »[…] wenn er eine schon
bestattete Leiche ausgräbt und ausplündert, vor Gericht
Grabplünderung genannt, und es ihm nachgewiesen wird,
sei er ein Wargus bis zu dem Tag, da er mit den Verwandten
des Verstorbenen übereinkommt.« Im Altgermanischen ist
»Warg« auch der Wolf (schwedisch »Varg«). War der Wolf
also ein Leichenschänder ? Dasselbe Wort wurde auch in
anderem Zusammenhang verwendet. So bezeichnete man
die
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