Der Wolf
zwölf Wochen ist eine andere
Interpretation auch gar nicht möglich. Doch die Phantasiebezogenheit einer Geschichte muß den Wahrheitsgehalt
einer anderen nicht schmälern.
Das Wolfsbild heute
In Abhängigkeit von ihrer realen Beziehung zum Wolf hat
sich das Bild, das die Menschen sich von ihm machten,
unablässig gewandelt. Für unsere noch jagenden Vorfahren war der Wolf lediglich ein weiterer Jäger und manchmal auch willkommene Beute. Er wurde geduldet oder
gar wegen seiner Stärke und seiner geschickten Jagdweise
bewundert. Erst für den Viehzüchter wurde er zum Schädling, für den Sportjäger dann zum Konkurrenten und für
den unbewaffneten Menschen bisweilen sogar zum Raubfeind. Doch diese Zeit der totalen Konfrontation ist bei
uns in Europa längst dahin. Zwar ist der Wolf in manchen
Gebieten noch eine Gefahr für die Haustiere, in anderen
wohl noch vermeintlicher Konkurrent des Jägers ; ansonsten aber ist er weitgehend ausgerottet, ist er zu einem Tier
geworden, das unserer Vergangenheit angehört.
Obwohl oder vielleicht gerade weil die Erfahrung mit ihm
fehlt, stammt das Bild, das wir uns vom Wolf machen, aus
der Zeit verständlicher Feindschaft. Nach dem Ausspruch
»Homo homini lupus«, den der englische Philosoph Thomas Hobbes von dem altrömischen Komödiendichter Plautus übernahm, ist zwar der Mensch selbst des Menschen
größter Feind, doch für Feind steht hier synonym der Wolf.
Von frühester Kindheit an erfahren wir, was alle Kinder in
Europa von den Älteren hören und später an ihre eigenen
Kinder weitergeben : Der Wolf ist böse und haust im dunklen, unheimlichen Wald. Ich kenne sogar Förster, die bei
Dunkelheit ungern allein in den Wald gehen ; dabei ist dies
wohl der sicherste Ort, den man dann aufsuchen kann.
In dieser irrationalen Beziehung zu einer Tierart und
ihrem Lebensraum manifestieren sich wahrscheinlich uralte,
ererbte Ängste, nicht der Jäger zu sein, sondern der Gejagte,
nicht der Beutemacher, sondern die Beute – Ängste, die
den wirklichen Gefahren der Neandertaler und womöglich
auch der Steinzeitmenschen angepaßt waren, die aber, verglichen mit den heutigen Gefahren der Zivilisation, ohne
Bedeutung sind. Vermutlich sterben derzeit täglich mehr
Menschen im Straßenverkehr, als im Laufe der Geschichte
jemals von Wölfen gerissen wurden. Trotzdem haben wir
vor dem Wolf und seinem Lebensraum Angst, nicht aber
vor dem Auto und den Straßen der Stadt. Selbst unter den
Tieren haben Pferde, Schweine und Hunde, ja sogar Bienen sehr viel mehr Menschen getötet, war und ist im Wald
noch heute der Bär ungleich gefährlicher als je ein Wolf.
Doch Haustiere sind uns vertraut, und der Bär mit seinem
runden Kopf, seinem wolligen Fell und seinen scheinbar so
unbeholfenen Bewegungen löst bei uns eher Wohlwollen
und Gefühle der Fürsorge aus. Der Wolf hingegen stellt mit
seiner langen Schnauze und seinem von spitzen Zähnen
starrenden Maul den Prototyp des Räubers zu Lande dar,
nicht anders als der Hai im Meer, das Krokodil im Fluß.
Zu diesen atavistischen Ängsten vor dem Wolf und zu
seiner mythologischen Einordnung in die Nähe des Teufels sind allerdings in neuester Zeit einige weitere Wolfsbilder hinzugekommen. Schon Ende des 19. Jahrhunderts,
als vielerorts der Sieg über den Wolf bereits errungen war
und sein Ende sich allgemein abzeichnete, erlebte der Wolf
in unserer Vorstellungswelt eine radikale Umkehrung früherer Bewertungen. Bei Jack London und Rudyard Kipling
ist der Wolf plötzlich nicht mehr Vertreter böser Mächte,
sondern König des Waldes, Herrscher und Gegenpol des
Menschen in seinem verderblichen Streben.
Es war die Zeit einer enormen Entfaltung der kapitalistischen Wirtschaft. Die Verfechter des sogenannten Sozialdarwinimus versuchten den Erfolg der ungehemmt aufstrebenden Unternehmer und die rücksichtslose Ausbeutung der arbeitenden Massen mit Darwins großartigem
Entwurf der Selektionstheorie vom »Survival of the fittest«
zu rechtfertigen. Aus der Biologie leitete man die irrige Meinung ab, allein der Sieg des Stärkeren über den Schwächeren garantiere auch in der menschlichen Gesellschaft die
Fort- und Höherentwicklung. Und in jener Zeit des Aufbruchs wurde aus dem räuberischen Verbrecher Wolf auf
einmal der Herrscher, dessen Stärke angeblich den Untergang seiner Beute, des Schwächeren, rechtfertigte.
Dieses veränderte Wolfsbild war wohl auch die Motivation für die Züchtung eines Hundes, der äußerlich dem
Wolf ähnlich sah.
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