Der Wolf
So entstand durch Kreuzung und strenge
Weiterzucht gegen Ende des 19. Jahrhunderts der deutsche
Schäferhund. Diese Rasse ist also nicht, wie so häufig angenommen wird, eine besonders alte und mit dem Wolf nahe
verwandte, sondern eine Rasse neuen Datums. Die Züchter
gingen allerdings mehr von ihrem eigenen Bild vom Wolf
aus als von seinem wirklichen Aussehen. So wurde der
Schäferhund zu einem breitbrüstigen, massigen Tier mit
relativ kurzen Beinen, im Vergleich zu dem hochbeinigen,
schmächtigen Wolf. Ähnlich falsche Vorstellungen haben
noch heute viele Schäferhundbesitzer vom Verhalten des
Wolfes. Manch einer wünscht sich einen äußerst »scharfen,
mutigen« Hund, der nur einen Herrn akzeptiert, dem er
sich total unterordnet. Doch das Vorbild Wolf kann man
kaum mehr verkennen. Die bekannten Probleme mit dem
Schäferhund – keine Rasse beißt so häufig und so fest den
Falschen wie der deutsche Schäferhund – wurden auf diese
Weise jedenfalls, sowohl von der Zucht her wie durch Erziehung und Haltung, programmiert. Wenn die Wirklichkeit
den Erwartungen dann nicht entspricht, glaubt mancher
Züchter, den Schäferhund durch Einkreuzen mit Wölfen
noch »schärfer«, noch »mutiger«, noch »treuer« zu bekommen. Welch ein Trugschluß! Die aus den Kreuzungen hervorgegangenen Tiere sind genau das, was sie nicht sein sollen, nämlich ängstlich – der Halter würde sogar »feige«
sagen –, unbelehrbar, aber selbständig, das heißt, weniger
an den Menschen gebunden.
Wie verführerisch dieses Bild von »wölfischer Treue« und
von der angeblichen »sozialen Monogamie« des Wolfes ist,
zeigt sich auch in der einstigen Annahme Konrad Lorenz’
von der Abstammung des Hundes. Lorenz unterschied den
»Aureus-Hund« vom »Lupus-Hund«. Während die eher
gegen jedermann freundlich eingestellten Hunderassen vom
Schakal (Canis aureus) abstammen sollten, hätten die nur
einen Herrn akzeptierenden Hunde den Wolf (Canis lupus)
als Stammvater. So hat das heroische Bild vom Wolf sogar
einen Wissenschaftler seines Ranges zu Fehldeutungen verleitet.
Demgegenüber mutet das neuerdings vor allem in Nordamerika kolportierte Bild vom Wolf als einem »doch nicht so
schlimmen Räuber wie früher immer behauptet« geradezu
komisch an. Vermutlich begann es mit dem Buch »Never
Cry Wolf« von Farley Mowat, das 1963 erschien (und 1971
unter dem Titel »Ein Sommer mit Wölfen« auch in deutscher Übersetzung herauskam). Der Verfasser beschreibt
darin seine Erfahrungen als Forscher hoch oben im Norden Kanadas, wo er einen Sommer lang ein Wolfsrudel
beobachtete, das sich nicht etwa von Karibus oder Elchen
ernährte, sondern von Mäusen. Um zu erfahren, wie dies
möglich war, machte Mowat dazu auch noch einen Selbstversuch. Dieser gelang, womit der Beweis erbracht war, daß
die Wölfe viel friedlicher sind als ihr Ruf.
Wenn der Inhalt auch rein fiktiv und streckenweise absurd
war – das Buch war hinreißend geschrieben. Es erschien
gerade zu Beginn der Naturschutzbewegung in Nordamerika und löste eine Lawine aus. Jede Form von »Predator
control«, von Raubtierbekämpfung, wie man sie so lange
und so intensiv in Nordamerika praktiziert hatte, wurde
fortan abgelehnt, nicht zuletzt in den noch verbliebenen
Wildnisregionen und erst recht in den Nationalparks, wo
man ebenfalls zuvor Wölfe, Kojoten, Bären und Pumas im
vermeintlichen Interesse des Wildes auszurotten versucht
hatte, häufig mit Erfolg. So lautete die neue Botschaft: »Räuber sind gar nicht so blutrünstig.« (Über das Leben von
Mäusen macht man sich wohl nirgendwo Sorgen.)
Die Botschaft wurde gründlich mißverstanden. Nach einer
Tagung über Verhalten und Ökologie des Wolfes bei Mike
Fox in Saint Louis, Missouri, an der viele Wissenschaftler
und noch mehr Anhänger der neuen »Save the wolves«Bewegung teilgenommen hatten, fuhr ich zusammen mit
einem älteren Ehepaar im Taxi zum Flughafen. Die beiden
machten Unterrichtsfilme für Schulen und erzählten mir
von dem traurigen Erlebnis mit einem Wolf, das sie vor kurzem gehabt hatten. Um den Schülern zu beweisen, daß Wolf
und Lamm sehr wohl friedlich zusammenleben könnten,
hielten sie in je einem Gehege nebeneinander einen jungen Wolf und ein junges Schaf. Diese beschnüffelten sich
auch immer wieder freundlich am Zaun. Doch am Tag der
entscheidenden Aufnahme passierte es. Wolf und Lamm
sollten zusammen spielen. Zu diesem Zweck wurden sie im
Garten des Ehepaars vor die Kamera gebracht.
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