Der Wolf
indes nicht an, auch dann
nicht, als wir uns entfernten und sie von außen durch das
Fenster beobachteten. So, wie wir sie auf den Boden hingelegt hatten, blieben sie wie erstarrt liegen. Eine Empfehlung für den Tierhandel war dieser kleine Haufen Elend
wahrlich nicht. Ich zögerte lange, ob ich den Rüden behalten sollte. Da er nicht wie die anderen Tiere unter kontrollierten Bedingungen aufgezogen war, konnte ich ihn
für meine Arbeit nicht verwenden. Aber was sollte ich
sonst mit ihm tun ? Schließlich hatte ich bis jetzt ja nur
einen Wolf. Wir behielten ihn also und nannten ihn Alec. –
Einige Tage nachdem wir diesen scheuen Wolf bekommen
hatten, erhielten wir gute Nachricht. Im Rotterdamer Zoo
waren Welpen von finnischen Wölfen geboren worden. Sie
waren allerdings schon drei Wochen alt. Wir fuhren sofort
hin. Es waren sieben Welpen, von denen ich drei aussuchte :
zwei Rüden und ein Weibchen.
Flucht und Sozialisation
Die Rotterdamer Welpen – Andra (schwedisch »die zweite«),
Anselm und Großkopf (sein Kopfumfang ließ uns unsere
Vorsätze für die Namengebung vergessen) – zeigten schon
erste Ansätze von Fluchtverhalten bei der Fütterung, und
trotz unserer intensiven Bemühungen wurden sie nicht zahmer. Im Gegenteil, mit jedem Tag wurden sie scheuer, und
es wurde immer schwieriger, sie zur Fütterung einzufangen.
Auch zeigten sie uns gegenüber nicht jene sozialen Verhaltensweisen, die Anfa im gleichen Alter schon so intensiv an
den Tag gelegt hatte. Offensichtlich verhinderten die frühreifen Fluchttendenzen eine Sozialisation an den Menschen.
Dabei spielte sicherlich auch der Umstand eine Rolle, daß
diese Welpen anders als Anfa nicht allein mit dem Menschen aufwuchsen, sondern zu dritt. Und was vermutlich
noch wichtiger war : In der zwei Monate älteren und entsprechend größeren Anfa fanden sie eine Art Mutterersatz.
Menschen hingegen lösten zunehmend Flucht aus. Die drei
Welpen folgten Anfa, wie diese mir seinerzeit nachgefolgt
war, rollten vor ihr auf den Rücken, winselten, sprangen
an ihr hoch, leckten ihr das Gesicht. Anfa wiederum verhielt sich – selbst gerade erst drei Monate alt – manchmal
schon wie ein erwachsener Wolf gegenüber den Welpen.
Wenn diese winselten, lief sie zu ihnen hin, legte sich zu
ihnen, leckte ihnen den Bauch und das Fell und trug ihnen
manchmal Futter zu. Auf intensives Futterbetteln hin er.brach sie sogar einige Male Nahrung für die kleinen Welpen, zeigte also ein Verhalten, das normalerweise erst bei
einjährigen Wölfen zu beobachten ist, wenn neue Welpen
im Rudel um Futter betteln. Die ihr abverlangte Mutterrolle zeitigte bei Anfa somit Verhaltensweisen, die bei einer
natürlichen Entwicklung sehr viel später reifen. Vielleicht
trug diese unnatürliche Entwicklung auch zu ihren späteren Verhaltensstörungen bei, die uns noch viel Sorge bereiten sollten.
Es schien, daß bei der Sozialisation der Welpen die Größe
des Sozialisierungsobjektes, hier also die von Anfa, eine
wichtige Rolle spielte. Das entspricht der Situation der in
Freiheit aufwachsenden Wolfswelpen, die sich erwachsenen
großen Rudelmitgliedern anschließen müssen. Manchmal
meinte ich, bei den drei neuen Wolfswelpen den Versuch
einer freundlichen Kontaktnahme mir gegenüber beobachten zu können. Auf zwei bis drei Meter Abstand wedelten sie plötzlich mit dem Schwanz, knickten die Beine ein,
zogen die Ohren nach hinten und nach unten und machten ein paar hopsende Bewegungen auf mich zu. Aber dann
schienen sie doch Angst zu bekommen, drehten sich um
und rannten weg.
Es war, als bestimmten zwei entgegengesetzte Antriebe
ihr Verhalten mir gegenüber : Flucht vor dem Menschen
und gleichzeitig eine Sozialisationstendenz gegenüber dem
größeren, Wärme und Futter spendenden Wesen. Bei Anfa
war die Fluchttendenz durch rechtzeitige Gewöhnung überwunden worden. Der ältere Welpe, den wir einige Tage
zuvor bekommen hatten, zeigte hingegen überhaupt keinen Ansatz zur Sozialisation. Bei Alec war die Zeit möglicher Bindungen an Menschen schon weitgehend vorbei.
Er blieb äußerst scheu. Das Fressen verschlang er in großer Hast. Dabei schluckte er im Alter von einem halben
Jahr einmal einen Stein und starb wenige Tage später an
Darmverschluß.
Diese eher zufälligen Beobachtungen an den verschieden
aufgezogenen Wölfen lassen erkennen, daß die Sozialisationsphase in eine kurze Periode innerhalb der ersten Lebenswochen fällt. Systematischer durchgeführte Versuche im
Zoo
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