Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Wolf

Der Wolf

Titel: Der Wolf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erik Zimen
Vom Netzwerk:
Offensichtlich
konnte sie sich jetzt schon im Raum orientieren. Setzte ich
sie aber außerhalb des Zimmers ab, fing sie laut an zu »weinen«. Sie befand sich in einer Phase sehr schneller Entwicklung, und ich kam mit dem Protokollieren neu beobachteter Verhaltensweisen kaum nach.
    Wenn ich ins Institut nach Kiel fuhr, steckte ich Anfa
unter meine Jacke und trug sie, wie ein Känguruh sein Junges, mit mir herum. Meistens schlief sie die ganze Strecke.
Im Alter von siebzehn Tagen aber steckte sie einmal ihren
Kopf aus der Jacke und fing an zu heulen. Es war ein helles, aber schönes, melodisches Heulen und dauerte vielleicht zwanzig Sekunden. Danach verkroch sie sich wieder
in meine Jacke, rollte sich ein und schlief weiter.
    Als Anfa vierundzwanzig Tage alt war, gab ich ihr zum
erstenmal gehacktes Fleisch. Sie verschlang es und bekam
von da an täglich größere Portionen. Entsprechend der Zunahme festen Futters im Speiseplan wurde aber auch der Kot
Anfas größer und, was noch schlimmer war, übelriechender. Trotz meiner Bemühungen, Kot und Urin sofort aufzuwischen, zerfetzte Kleidungsstücke zu entfernen, umgefallene Kisten, Stühle, niedergerissene Bücher wieder aufzustellen, mehrten sich Dagmars Proteste, und schließlich
mußte ich nachgeben : Anfa kam aus dem Haus, vorerst tagsüber. Während sie wenige Tage zuvor in fremder Umgebung noch große Angst gezeigt hatte, tollte sie jetzt – wieder
ein Entwicklungssprung – im Garten herum, untersuchte
jede Ecke, spielte mit Stöcken, biß in Blumen hinein und
rollte sich schließlich neben mir im Gras ein und schlief.
Erst Jahre später konnte ich beobachten, wie natürlich aufwachsende Wolfswelpen im Alter von gut drei Wochen zum
erstenmal ihre Wolfshöhle verlassen und immer größere
Erkundungsgänge um die Höhle machen. Im Alter von
sechs Wochen halten sie sich schon recht lange außerhalb
der Höhle auf und schlafen auch mal, in einem Haufen
zusammengedrängt, im Freien.
    Anfa entwickelte sich also in dieser Hinsicht recht normal.
Nachts kam sie vorerst wieder ins Haus und in ihre Kiste.
Da sie jetzt mehr und mehr feste Nahrung zu sich nahm,
brauchte sie nicht mehr, wie anfänglich alle zwei Stunden,
Tag und Nacht ihre Milch. Die Pausen zwischen den Fütterungen wurden immer länger. Sie wurde zunehmend selbständiger und suchte nur noch beim Schlafen den engen
Kontakt zu mir. Außerhalb des Gartens jedoch lief sie mir
auf Schritt und Tritt nach und traute sich nur in meiner
Begleitung auf längere Erkundungsausflüge.
Erster Spaziergang
    Im Alter von acht Wochen folgte mir Anfa zum erstenmal
über das große Feld in den etwa vierhundert Meter entfernten Wald. Während sie sich im offenen Gelände sehr
unsicher verhielt und leise winselte, war sie im geschlossenen Wald wie verändert. Sie sprang im dichten Unterholz herum, und ich hatte alle Mühe, sie im Auge zu behalten. Einmal blieb sie plötzlich wie angewurzelt stehen und
starrte in den Hochwald. Ich ging weiter, aber sie blieb stehen. Unruhig, mit leicht eingeknickten Hinterbeinen, aber
hochgehobenem Kopf und gespitzten Ohren, starrte sie voraus, wuffte, machte ein paar Schritte vorwärts, kehrte um,
rannte zurück. Ich hatte keine Ahnung, was los war, konnte
auch vor uns nichts erkennen und ging wieder weiter. Mit
eingeknickten Beinen und immer aufs neue sichernd schlich
Anfa sich hinterher. Schließlich erkannte ich, was sie so
beunruhigte : Etwa fünfzig Meter vor uns stand ein alter,
überwachsener Pflug, wie man ihn früher im Wald benutzte.
Unter dem vergilbten Gras und mit seiner rostigbraunen
Farbe war er kaum als etwas dem Wald nicht Zu-gehöriges zu erkennen. Auch die Form fügte sich in die Unterholzvegetation ein. Er sah aus wie das Wurzelwerk eines
umgefallenen und vermoderten Baumes. Obwohl ich hier
schon häufig vorbeigegangen war, hatte ich diesen Pflug
noch nie bemerkt. Doch Anfa, die kaum über das Gras hinwegschauen konnte, erkannte das Gerät schon von weitem
und reagierte, als bedeute der Pflug eine große Gefahr für
sie. Wie war das nur möglich ? Wie er-kannte sie, die zum
erstenmal in ihrem Leben in einem Wald war, daß der Pflug
etwas Fremdes, vom Menschen Gemachtes war ?
    Wir gingen weiter und erreichten eine kleine Lichtung
mit einem Hochstand, zu dem eine Holzleiter hinaufführte.
Als wir an diesem Hochstand vorbeikamen, machte Anfa
unvermittelt einen riesigen Satz in den Wald hinein. Wieder fragte ich mich, wie sie wohl erkannte, daß die Leiter
und

Weitere Kostenlose Bücher