Der Wolf
völlig neu erdichtet. Über den letzten Satz des Artikels mußten wir alle lachen : »Im übrigen,
wer zu Hause einen jungen Wolf hat, soll ihn Zimen bringen, er sucht noch welche.«
Kaum zwei Monate lang arbeiteten wir mit einem jungen
Wolf, und schon zeichnete sich die Beziehung Mensch-Wolf
in ihren Umrissen als das ab, was sich später häufig bestätigen sollte: als eine Beziehung gegenseitiger Angst. Wie
sehr diese begründet ist, werden wir noch erfahren, aber
auch, welch trübe Geschäfte damit gemacht werden.
Zweites Kapitel
Die Entwicklung des Verhaltens
Im Mai 1967 – gerade hatten wir Anfa über die Zeit von
Fütterung und Pflege gebracht – kamen neue Welpen aus
Kiel : drei Königspudel, vier Puwos der ersten und vier
Puwos der zweiten Nachzuchtgeneration. Sie waren alle
erst zehn Tage alt, hatten die Augen noch nicht geöffnet
und wurden wie Anfa bei uns im Wohnzimmer künstlich
gefüttert, zuerst alle zwei, dann alle drei Stunden, Tag und
Nacht. Ich kam überhaupt nicht mehr zum Schlafen. Hatteich alle Tiere durchgefüttert und durch Bauch- und Genitalmassage »entleert« und schließlich trocken gerieben, be gann schon der erste Welpe erneut nach Milch zu winseln.
Da die Welpen zum Ersatz für das fehlende Saugen an den
Zitzen ihrer Mutter bald damit begannen, sich gegenseitig
an den Genitalien zu saugen, was wiederum zu Entzündungen führte, mußte ich sie vorerst voneinander trennen.
Jeder kam in eine eigene Kiste. Aufgereiht standen die Kisten im Wohnzimmer. Einige Welpen schliefen satt und
zufrieden, andere schrien nach Futter oder nach meinen
Fingern, an denen sie ihr Saugbedürfnis abreagieren durften, während da oder dort ein Welpe gerade über den Rand
seiner Kiste zu klettern versuchte. Dazwischen lief ständig Anfa hin und her, zerriß Protokolle oder warf eine
volle Milchflasche um. Es war ein herrliches Durcheinander. Dagmar, meine Frau, war freilich nicht allzu begeistert, hatte sie sich doch ihr neues Heim etwas geordneter
vorgestellt ; ich allerdings auch, zumindest was das regelmäßige Beobachten der Tiere betraf. Doch vor lauter Ersatzmutterschaft war dazu kaum Zeit. Es ging auch alles unerhört schnell. An einem Tag konnten die Welpen gerade auf
dem Bauch herumrutschen, am nächsten standen sie schon,
und als gleich danach kein Hindernis mehr hoch genug war,
nicht überklettert zu werden, waren alle Dämme gebrochen. Unser Wohnzimmer wurde zum Spielplatz umfunktioniert. Über den Zustand, in dem sich alsbald Teppiche
und Möbel befanden, will ich gar nicht erst berichten, auch
nicht über den sich allmählich im ganzen Haus verbreitenden Duft.
So war alles mehr oder weniger in bester Ordnung. Nur
weitere Wolfswelpen fehlten mir noch. Nachdem ich aus
Neumünster nur einen Welpen bekommen hatte, erkundigten wir uns bei einer Vielzahl zoologischer Gärten, ob
sie die Geburt junger europäischer Wölfe erwarteten und
einige davon abgeben könnten. Die meisten europäischen
Zoos haben aber Wölfe aus Nordamerika oder irgendwelche
Mischlinge unbekannter Herkunft. So wurde die Situation
allmählich brenzlig. Was sollte ich ohne Wölfe machen ?
Dann kam eines Tages jemand bei uns vorbei, der sagte,
in der Zeitung habe er gelesen, ich suchte junge Wölfe ; er
habe einen. Wir waren sprachlos. Sollte dieser unsinnige
»Bildzeitungs«-Bericht doch von Nutzen gewesen sein? Der
Mann war Schäferhundzüchter und wollte zur Verbesserung der Zucht, wie er meinte, einen Wolf in seine Gruppe
einkreuzen. Dazu hatte er bei einem privaten Händler ein
junges Weibchen gekauft, das er mit seinem Schäferhund
kreuzen wollte. Der Händler hatte ihm aber auch noch einen
Bruder des Weibchens mitgegeben, und da er diesen nicht
brauchen konnte, brachte er ihn uns gleich mit.
Der kleine Wolf lag zusammen mit seiner Schwester
völlig verdreckt und stinkend in einer engen Kiste. Der
Tierhändler hatte behauptet, die beiden Welpen stammten von sibirischen Wölfen ab ; wo und wann sie geboren
waren, konnte er jedoch nicht sagen. Ich schätzte ihr Alter
auf etwa fünf bis sechs Wochen. Beide Tiere waren sehr
scheu. Sie verkrochen sich sofort in eine Ecke unter dem
Bett, wobei jedes versuchte, den Kopf unter dem Körper
des anderen zu verstecken. Wir hoben sie in dieser VogelStrauß-Haltung hoch, aber sie rührten sich nicht ; vor Angst
waren sie völlig steif. Offenbar hatten sie seit Tagen nichts
zu fressen bekommen, denn ihre Mägen waren leer. Das
dargebotene Futter rührten sie
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