Der Wolf
eine geringe Bindung
an Menschen.
Diese Beobachtungen bei der Verhaltensentwicklung der
Welpen machen also deutlich, daß an der Formung sozialer Beziehungen mindestens zwei vermutlich voneinander
getrennte Erbfaktoren beteiligt sind, die zunächst unabhängig voneinander heranreifen : das Flucht- und das Sozialisationsverhalten. Erst im Laufe der Entwicklung kommt
es zu einer wechselseitigen Beeinflussung beider Faktoren,
wobei eine frühe Entwicklung des Fluchtverhaltens beim
Wolf die Möglichkeiten der Sozialisation stark einengt. In
diesem Zusammenhang sind die Beobachtungen von Niko
Tinbergen und seiner Frau von Interesse, nach denen bei
manchen verhaltensgestörten, sogenannten autistischen
Kindern ebenfalls frühentwickelte Fluchttendenzen den
Sozialisationsprozeß verhinderten.
Das Ethogramm
In jedem Lehrbuch der Verhaltensforschung steht, daß das
Aufstellen eines Verhaltenskataloges, eines Ethogramms,
Voraussetzung sei für das Studium des Verhaltens einer
Tierart. Das ist freilich gar nicht so einfach, wie jeder, der
eine Tierart zu beobachten beginnt, feststellen wird. Das
Verhalten eines Tieres ist ein Kontinuum ; es bedarf langfristiger und genauer Beobachtungen, bis man sich wiederholende, formkonstante Einheiten zu erkennen lernt.
Das Verhalten eines Tieres läßt sich zudem von ganz verschiedenen Seiten betrachten. Bei der formalen Beschreibung wird der erkennbare Ablauf des Verhaltens aufgezeigt,
etwa die Abfolge der Bewegungen einzelner Gliedmaßen,
die möglichen Lautäußerungen und so weiter. Oder man
untersucht das Verhalten nach der zugrunde liegenden Motivation des Tieres, nach seiner jeweiligen Stimmung, nach
dem Antriebssystem, nach auslösenden Reizen für das Verhalten, anders gesagt: nach der kausalen Verursachung. Ferner läßt sich das Verhalten nach der ontogenetischen Entwicklung des einzelnen Tieres analysieren ; die Frage lautet dann: Welche Lernprozesse finden statt ? Schließlich
kann man auch die stammesgeschichtliche Entwicklung des
Verhaltens betrachten, es mit dem Verhalten verwandter
Arten vergleichen, nach seiner Herkunft, seiner Vererbung
fragen. Das ist die Frage nach der Funktion des Verhaltens, also danach, welche Folgen es für das Tier hat, was
es ihm nutzt. Es gibt demnach unterschiedliche Betrachtungsebenen: eine formale, eine proximativ-kausale, eine
ontogenetische und eine stammesgeschichtliche funktionale, also ultimativ-kausale Ebene. Alles hängt natürlich
zusammen, denn das Verhalten ist eine Einheit. Für menschliche Betrachter ist es aber zweckmäßig, diese Ebenen zu
unterscheiden, da sie auch mit unterschiedlichen Methoden erfaßt werden müssen.
Trotz des oben geschilderten Durcheinanders gelang es mir,
zuerst in unserem Wohnzimmer und später, als Dagmar
endgültig der Geduldsfaden gerissen und alle Welpen des
Hauses verwiesen waren, in den Gehegen um das Haus
so viel zu beobachten, daß ich ein vorläufiges Ethogramm
aufstellen konnte. Darin versuchte ich alle formkonstanten und von anderen Bewegungs- oder Haltungsweisen
unterscheidbaren Einheiten im Verhalten der Wölfe nach
ihrem formalen Ablauf genauestens zu beschreiben. Da
gab es Verhaltensweisen wie Sich-hinter-dem-Ohr-Kratzen, Trinken, Zähneblecken, Sitzen sowie Lautäußerungen
wie Knurren, Winseln, Heulen und so weiter. Die zunächst
ungeordnet hintereinander aufgezählten Verhaltensweisen
faßte ich dann nach ihrer jeweiligen Funktion zu größeren Einheiten zusammen. Solche Funktionskreise waren
etwa allgemeine Bewegungsformen, Komfortverhalten, Nahrungsaufnahme und Sozialverhalten.
Über die Jahre wurde daraus ein Katalog von insgesamt
369 verschiedenen Verhaltensweisen beziehungsweise Körperhaltungen : das Verhaltensinventar des Wolfes. Von ihnen
wählte ich 131 besonders auffällige Verhaltensweisen aus,
etwa Traben, Galoppieren, Sich-hinter-dem-Ohr-Kratzen,
Fliehen, Fressen, Knurren, sexuelles Aufreiten. Anhand
dieses Katalogs registrierte ich dann bei jedem Wolfswelpen, den ich in diesem und den folgenden Jahren aufzog,
an welchem Lebenstag ich das jeweilige Verhalten zum
erstenmal beobachtete.
Die schnelle Entwicklung
Die Lebensäußerungen der neugeborenen Welpen beschränken sich bis zum Alter von zehn Tagen im wesentlichen auf
Saugen mit Milchtritt, Herumrobben und Winseln. Auch
in den folgenden zehn Tagen entwickelt sich ihr Verhalten
nur langsam. Sie werden beweglicher und reagieren erstmals auf laute Geräusche und schattenhafte Bewegungen.
Gelegentlich
Weitere Kostenlose Bücher