Der Wolf
der Hochstand oben in der alten Fichte etwas Naturfremdes waren, und warum sie davor Angst hatte. Langsam
führte ich sie an die Holzleiter heran. Vorsichtig beschnupperte sie diese und lief dann unbekümmert weiter, und ich
war wieder voller neuer Fragen.
In den nächsten Tagen und Wochen wurde Anfa auch
außerhalb von Haus und Garten immer selbständiger. Das
von ihr erkundete Gebiet um unser Haus wurde ständig
größer, doch blieb sie, wenn allein, stets in Hausnähe. Nur
Dagmar und mir folgte sie auf weitere Ausflüge. Dabei entfernte sie sich kaum weiter als dreißig Meter von uns. Hatte
sie uns einmal verloren, winselte sie, zuerst leise, dann immer lauter ; manchmal ging das Winseln in ein Heulen
über. Fand sie uns wieder, kam sie schnell angerannt. Die
Beine waren dabei eingeknickt. Kurz vor uns ging sie hinten fast in eine Hocke und urinierte nicht selten dabei. Sie
wedelte mit dem Schwanz, rollte sich auf den Rücken, sprang
an uns hoch und versuchte, wenn wir uns niederbeugten,
das Gesicht oder die hingehaltene Hand zu lecken. Alles
war sehr stürmisch, sehr ausdrucksstark. Im Haus oder
im Garten begrüßte sie auch ihr fremde Personen auf jene
Weise, wenn diese sich langsam und vorsichtig bewegten.
Auf dem Feld oder im Wald geriet sie dagegen geradezu in
Panik, wenn sie einen fremden Menschen entdeckte, und
flüchtete sofort ins nächste dichte Unterholz. Auch zeigte
sie im Gelände immer noch vor vom Menschen hergestellten Geräten großen Respekt. Einen abgestellten Anhänger
auf dem Feld umkreiste sie, bis sie ihn im Wind hatte, und
näherte sich dann vorsichtig.
Anfas Angst vor Fremden brachte uns auch die erste Erfahrung mit einem ganz anderen Aspekt wölfischer Wirklichkeit: der Beziehung des Menschen zum Wolf. Am 25.
Mai 1967 – Anfa war gerade acht Wochen alt und hatte
etwa die Größe eines Zwergpudels – schrieb ich in mein
Tagebuch :
»Morgens lange mit Anfa im Garten. Sie folgt auf Schritt
und Tritt. Winselt viel. Ich fahre kurz ins Dorf. Als ich
zurückkomme, ist Anfa weg. Dagmar sagt, Anfa sei dem
Auto hinterhergelaufen. Auf dem Weg vor der Försterei
hätte sie mich verloren. Jess [der Förster] sieht sie und will
sie zurückbringen.
Anfa flieht. Daraufhin bittet Jess einen Waldarbeiter, Anfa
einzufangen, aber Anfa ist zu schnell und rennt dem Waldarbeiter davon in den Wald. Dagmar und ich gehen sofort
los und rufen. Anfa kommt gleich, wedelt aufgeregt mit dem
Schwanz, winselt, sieht den Waldarbeiter und rennt wieder
ins Gebüsch. Erst als der Waldarbeiter weg ist, kommt sie
hervor und folgt uns ganz dicht zurück zur Försterei.«
Das Ganze dauerte vielleicht zwanzig Minuten. Uns wurde
klar, daß wir Anfa bald in den Zwinger sperren mußten ;
aber sonst ahnten wir nicht, welche Folgen dieser Ausflug
haben würde. Am nächsten Tag kam ein Journalist vorbei.
Er hatte im Dorf die Geschichte gehört – offensichtlich hatte
der Waldarbeiter davon erzählt – und wollte sich diesen
kleinen Wolf selber anschauen. Anfa sprang an ihm hoch
und zerrte an seinen Schnürsenkeln, leckte seine Hände,
und er machte Fotos von ihr und von Dagmar, wie sie Anfa
die Flasche gab. Er sagte, er würde einen kleinen Bericht
für die lokale Presse schreiben, vielleicht auch für eine Zeitung in Hamburg.
Nun gut, wir dachten nicht weiter daran, bis uns einige
Tage später die »Bildzeitung« gezeigt wurde. Große Überschrift auf der Titelseite : »Holsteinisches Dorf in Angst vor
dem Wolf«. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Schrekkensnachricht : »Der Wolf ist los.« Im Text wurde berichtet, wie die Mütter angeblich Kinderwagen eilig ins Haus
gebracht hätten und die Männer mit angelegten Gewehren durch Wald und Flur gezogen seien, »um das böse sibirische Ungeheuer zu erlegen«. Erst ganz unten, im letzten
Teil des Artikels, erfuhr der wohl entsetzte Leser, daß das
Ganze doch nicht so schlimm gewesen war, denn der Wolf
sei erst ein »Wölfchen«, liege noch im »Körbchen« und
bekomme »Fläschchen« von »Frauchen«.
Wütend rief ich den Journalisten an. Er war vorbereitet
und las mir seinen eigenen Bericht vor, den er der »Bildzeitung« in Hamburg zugeschickt hatte. An diesem Text
war nichts auszusetzen ; er schilderte recht genau, was er
selbst erlebt hatte und auch, daß Anfa kurz weggelaufen
war, weil sie vor dem wohlbeleibten Förster Angst bekommen hatte. Offensichtlich wurde der Bericht in der Hamburger Redaktion nach bewährtem Muster unter Ausnutzung alter Vorurteile
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