Der Wolf
von Chicago zeigen allerdings, daß Wölfe jeden Alters
unter bestimmten Voraussetzungen an Menschen sozialisiert werden können. Es wurden hier adulte Wölfe lange
Zeit von anderen Artgenossen isoliert gehalten. Gleichzeitig
setzte sich jeden Tag ein Mensch für viele Stunden in den
Zwinger, bis der Wolf schließlich seine anfängliche große
Scheu überwand und erste Kontaktversuche unternahm.
Verschiedene Medikamente halfen, diesen sonst sehr lange
dauernden Prozeß zu beschleunigen.
Solche Bedingungen entsprechen natürlich nicht den Verhältnissen, unter denen Wolfswelpen normalerweise aufwachsen. Bei ihnen erfolgt der Prozeß des Erlernens sozialer Identifikation, des Erkennens von Artgenossen, in früher Kindheit, danach läßt er sich nur schwer verändern.
Diese Sozialisation findet bevorzugt mit größeren Individuen statt, die keine Flucht auslösen, also vertraut sind. Da
die Ausprägung des Fluchtverhaltens sehr früh im Laufe
der Entwicklung eintritt, wird normalerweise eine Sozialisation an Artfremde verhindert. Nur wenn das Fluchtverhalten gegenüber dem Menschen durch rechtzeitiges
Gewöhnen überwunden wird, kann auch mit ihm eine
Sozialisation stattfinden.
Im Vergleich zu den Wölfen zeigten die drei Pudelwelpen einige wesentliche Unterschiede in ihrem Sozialisationsverhalten. Irgendwelche Fluchttendenzen gegenüber
Menschen waren bei ihnen überhaupt nicht zu bemerken.
Obwohl sie zusammen mit den anderen Welpen gehalten
wurden, bemühten sie sich immer wieder, Kontakt zu mir
oder Dagmar herzustellen, und zeigten bald in der für Hunde
typischen Weise sowohl uns wie ihren Artgenossen gegenüber soziales Verhalten.
Eine wesentliche Voraussetzung für diese zweifache Prägung des Hundes ist die gering entwickelte Fluchttendenz
der Hundewelpen. Aufgrund dessen können auch normal
aufwachsende Welpen, die in ihren ersten Lebenswochen
meistens bei der Mutter gemeinsam mit den Wurfgeschwistern gehalten werden, nach der üblichen Trennung von
diesen im Alter von sechs bis zehn Wochen immer noch
eine starke Bindung zum Menschen entwickeln. Nur Welpen, die fernab von Menschen, etwa im Wald von einer verwilderten Hündin, aufgezogen werden, entwickeln große
Scheu und Vorsicht gegenüber Menschen. Trotzdem sind
auch ältere Welpen, die zum erstenmal mit den Menschen
direkt Kontakt haben, relativ leicht zu zähmen.
In den Abruzzen ging uns einmal eine Hündin in eine
Wolfsfalle. Ihre Zitzen waren voll mit Milch. Wir mußten nicht lange suchen, bis wir in einem Abflußrohr unter
einer Straße im Wald zwei erst zehn Wochen alte Welpen
fanden. Zuerst zogen sie sich vor uns zurück, aber wenige
Stunden später spielten sie schon mit uns wie ganz normale Hundewelpen. Dies wäre bei gleichaltrigen Wolfswelpen undenkbar gewesen. Erst verwilderte Hunde erwachsenen Alters lassen sich nicht mehr so leicht an Menschen
sozialisieren ; bei ihnen ist eine solche Sozialisierung nur
möglich nach längerer Isolation von anderen Hunden und
einer langsamen Überwindung der Fluchttendenzen durch
monatelange vorsichtige Annäherungsbemühungen eines
Menschen, ähnlich der Zähmung der Wölfe im Zoo von
Chicago.
Eine Sozialisation an eine andere Art ist bei Hunden demnach im ganzen Leben möglich, wenn auch die Zeitspanne
von der vierten bis zur fünfzehnten Lebenswoche, wie die
Amerikaner Scott und Fuller herausfanden, die Zeitspanne
größter Sozialisationsbereitschaft darstellt. Wie lang die
optimale Sozialisationsphase bei den Wölfen ist, läßt sich
wegen der starken Fluchttendenzen nicht in einem Experiment vergleichbar jenem von Scott und Fuller feststellen.
Das Verhalten von Alec, der trotz aller Bemühungen auch
nicht den geringsten Ansatz zu sozialer Kontaktnahme uns
gegenüber zeigte, läßt aber vermuten, daß diese Phase bei
den Wölfen kürzer ist als beim Hund.
Die längere Sozialisationsphase beim Hund ist sinnvoll,
wenn man bedenkt, daß die meisten Hundewelpen in den
ersten Wochen von Menschen getrennt aufwachsen. Erst
dann werden sie von ihren Artgenossen isoliert und von
Menschen übernommen. Trotzdem findet auch jetzt die
Sozialisation mit der fremden Art ohne Probleme statt. Dabei zeigten die Versuche von Scott und Fuller, daß sehr früh
von der Mutter und den Geschwistern entfernte Welpen zu
stark an Menschen gebunden wurden und kaum noch zu
normalen Kontakten mit Artgenossen fähig waren. Welpen
hingegen, die erst im Alter von drei Monaten oder später
zu Menschen kamen, entwickelten
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