Der Wolf
Leistungsfähigkeit der Tiere, jede Vermittlung abstrakter Zustände.
Weiter fehlt jede Syntax; das heißt, die Reihenfolge, in der
die Signale übermittelt werden, hat keinen Einfluß auf ihre
Bedeutung. In der menschlichen verbalen Sprache bedeutet
»der Wolf jagt den Menschen« und »der Mensch jagt den
Wolf« etwas ganz Verschiedenes. Eine ähnliche Umkehrung
der Bedeutung durch eine Veränderung der Reihenfolge der
Signale ist in der tierischen Kommunikation nicht möglich. Das Tier ist vielmehr nur in der Lage, seinen jeweiligen Ist-Zustand zu übermitteln : »Hier bin ich, ich tue dies
(oder das) in dieser (oder jener) Stimmung.«
Signale, die Pflegeverhalten auslösen
Bei Konrad Lorenz stand neben dem Erfassen des arttypischen Verhaltens auch immer das Individuum mit seiner ganz bestimmten Vergangenheit und seinen Eigenarten im Vordergrund. Wie bei keinem Tier später sollte ich
diese Individualität bei Anfa kennenlernen. Für sie waren
neben den vielen Tieren im Gehege vor allem Menschen
Sozialpartner. Die Begrüßung war jeden Morgen, wenn ich
in den Zwinger kam, gleich stürmisch. Mit eingeknickten
Hinterbeinen, eingeklemmtem Schwanz, der nur an der
Spitze aufgeregt wedelte, rannte sie auf mich zu. Den Kopf
hielt sie tief, die Ohren waren nach hinten gelegt, die Ohrwurzel war nach unten gezogen. Schon bevor sie mich erreichte, hob sie den Kopf, sprang dann an mir hoch, biß
sich in meinen Kleidern fest, leckte mich im Gesicht, wenn
sie es schaffte, rollte schließlich auf den Rücken und winselte. Später habe ich das gleiche Verhalten bei normal
aufwachsenden Welpen im Rudel beobachten können, die
immer wieder den erwachsenen Rudelmitgliedern so begegnen. Diese beriechen die Welpen, lecken ihnen manchmal
das Fell, besonders in der Anogenitalregion und am Bauch,
lassen sich im Fell ziehen, an sich herumklettern, ja sind
überhaupt sehr geduldig mit den Welpen.
Erblickte Anfa im Wald oder auf dem Feld einen fremden Menschen, wurde sie unruhig. Zu Hause hingegen, in
für sie vertrauter Umgebung, war sie in ihrer Begeisterung
auch Fremden gegenüber kaum zu halten. Es kamen viele
Freunde nach Rickling, um von einem Wolf begrüßt zu werden, und jedesmal war ich für Anfa nur noch Nebenfigur.
Bei unseren ersten Spaziergängen mit Anfa hatten Dagmar
und ich uns im Gelände manchmal getrennt, um zu sehen,
wem Anfa folgte. Damals lief sie stets mit mir. Im Alter von
einigen Monaten folgte sie im bekannten Gelände aber oft
den für sie fremden Menschen. Nur wenn wir sehr weite
Ausflüge machten, kam sie zu mir zurückgerannt.
Mir war die Bedeutung dieser momentanen Bevorzugung
anderer Menschen durch Anfa zuerst unerklärlich. Erst
Jahre später sollte ich es richtig verstehen. Wie ich noch
schildern werde, sind die Wölfe eines Rudels in der Regel
sehr aggressiv gegen andere, rudelfremde Artgenossen. Im
Sommer kommt es vor, daß einzelne Rudelmitglieder oder
auch kleinere Gruppen von Wölfen sich für längere Zeit
vom Rudel absetzen und eigene Wege gehen. Wenn sie dann
zurückkehren, sind für sie plötzlich fremde Wölfe im Rudel :
die Welpen. Deren stürmisch-unterwürfiges Verhalten kennzeichnet sie aber sofort als Welpen – als klein, abhängig,
ungefährlich –, und die älteren Tiere reagieren entsprechend.
So hatten wir auch in den meisten Fällen keine Schwierigkeiten, fremde Welpen und junge Wölfe bis zum Alter von
etwa acht bis zehn Monaten in ein bestehendes Rudel einzuführen. Erst bei älteren Tieren gab es erhebliche Schwierigkeiten, ja es erwies sich oft als ganz unmöglich, sie in
das Rudel zu integrieren.
Diese Aggression der Rudelwölfe gegen rudelfremde Tiere
mag erklären, warum besonders fremde Wölfe so stürmisch
von Jungwölfen begrüßt werden. Schon auf Abstand sind sie
auf diese Weise nicht nur durch ihre Größe, sondern auch
durch ihr Verhalten als Welpen zu erkennen. Eine genaue
geruchliche Kontrolle bestätigt dann nur noch den ersten
Eindruck. In einer Art vorbeugender Beschwichtigung verhindern die Welpen also eine Aggression und lösen zusätzlich auf sie gerichtetes Pflegeverhalten aus.
Aus dem Verhalten von Anfa erkennen wir, daß die Art
und Weise, wie sie Teile ihres Körpers hielt oder bewegte,
für andere Wölfe einen Informationswert besitzen mußte.
Rudolf Schenkel aus Basel, der kurz nach dem Krieg das
Verhalten der Baseler Zoowölfe beobachtete, nannte diese
Form einer optischen Kommunikation mit Hilfe des Körpers »Ausdrucksverhalten«. Mit
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