Der Wolf
es seit seinem
ersten Ausbruch zu einer gewissen Berühmtheit gebracht
hatte, berichtete die Presse von seinem Tod mit Schlagzeilen wie : »Wütender Wolf zerriß Rivalen in Fetzen«, und
als ich dagegen protestierte, mit : »Näschen starb an der
Liebe«. Schade war es trotzdem um ihn. Neben Anfa war
er es wohl, zu dem ich unter den Wölfen die engste Beziehung hatte. Doch so etwas zählt natürlich nicht bei wissenschaftlicher Arbeit.
Gleich nach dem Ausbruch, der für Finsterau auch den
Verlust ihrer »Leibgarde« bedeutete, wurde Tatra zunehmend freier. Finsterau wurde in Schach gehalten von dem
neuen Rudel im Gehege, während Tatra von diesem aufgenommen worden war. Es dauerte keine Woche, bis sie sich
wieder völlig frei im ganzen Gehege bewegte und ihren
alten Quälgeist Finsterau in die Felsen zurückdrängte. Ein
paarmal kam es zu ernsthaften Kämpfen zwischen den beiden, aus denen jedesmal die etwas größere Tatra als Siegerin hervorging. Jahrelang war sie also einer ihr kräftemäßig unterlegenen Rivalin rangunterlegen gewesen, woraus
man ersehen kann, daß die vermutete und nicht die wirkliche Stärke für die Rangbeziehungen zwischen den Wölfen ausschlaggebend ist.
Während all dieser Kämpfe setzte auch noch die Ranzzeit
ein. Die in mehreren Würfen erprobte Mutter Finsterau ordnete sich Tatra nicht unter. Sie hielt sich vielmehr zusammen mit Olomouc in ihrer felsigen Region auf. Psenner,
der ebenfalls von den anderen angegriffen wurde, schloß
sich ihnen an, und so bildeten sie ein eigenes kleines Rudel.
Beide Rüden kopulierten mit Finsterau. Da auch im großen Rudel Tatra mit Alexander kopulierte, der hier neuer
Alpha-Rüde geworden war, hatten wir Hoffnung, nach all
den Abgängen bald wieder neue Welpen zu bekommen. Aber
es wurden keine geboren. Offensichtlich hatten bei beiden
Weibchen die große Aggressivität und die ständige Hektik
während der Ranzzeit entweder eine Befruchtung verhindert oder einen vorzeitigen Abort verursacht. Daher trennte
ich die beiden Rudel wieder, nachdem das kleine Gehege
und die Falle dort nicht mehr benötigt wurden. Ein Jahr
später bekamen beide Weibchen Junge ; insgesamt waren
es elf : sieben von Finsterau, vier von Tatra. An neuen Wölfen fehlte es nicht mehr.
Siebtes Kapitel
Die Funktion der Rangordnung
Die herkömmliche Meinung von der Funktion hierarchischer Strukturen ist, daß sie dazu beitragen, »ständige Reibereien der Mitglieder zu vermeiden, Aggressionen zu neutralisieren«, und daher für die Gruppe von Vorteil sind.
Ist es jedoch wirklich so ? Eine hierarchische Struktur ist
Eigenschaft der Gruppe und nicht eines Individuums. Können aber Merkmale einer Gruppe eine Funktion in evolutivem Sinn haben, wenn die Selektion doch am Individuum beziehungsweise an seinen Genen ansetzt?
Auf die in der heutigen evolutionstheoretischen Diskussion
zentrale Frage, ob es wirklich so etwas wie eine Gruppenselektion gibt, kann ich hier nicht eingehen. Dem interessierten Leser möchte ich die beiden ausgezeichneten Zusammenfassungen zu diesem Thema von Richard Dawkins sowie
von Wolfgang Wickler und Uta Seibt empfehlen. Wir werden uns hier mit diesen Fragen nur insoweit auseinandersetzen müssen, als sie Wölfe betreffen.
Wenn es tatsächlich von Vorteil für das Wolfsrudel ist,
daß möglichst alles reibungslos funktioniert – was im Hinblick auf die gemeinsamen Aufgaben, zu jagen oder Welpen
großzuziehen, anzunehmen ist –, wäre es dann nicht viel
besser, in einer rangfreien, völlig gleichberechtigten Gruppe
zu leben ? Fordert nicht gerade die Existenz unterschiedlicher Ränge Aggressionen heraus? Wölfe leben aber nicht
in aggressionslosen Gruppen ; also müssen Aggression und
hierarchische Struktur dennoch einen Vorteil haben, wenn
nicht für die Gruppe, so doch für die einzelnen Wölfe. Wir
kommen einer Antwort auf diese Fragen näher, wenn wir
den jahreszeitlichen Verlauf sozialen Verhaltens, insbesondere den der Aggressivität, näher betrachten.
Jahreszeitlicher Verlauf der Aggressivität
Während der Wintermonate tritt bei den Wölfen eine deutliche Steigerung der Häufigkeit allgemeiner sozialer Verhaltensweisen ein, die dann zu den Sommermonaten hin wieder abfällt. Auch das aggressive Verhalten hat einen zyklischen Verlauf. Im Vergleich zum jahreszeitlichen Verlauf
nichtaggressiver Verhaltensweisen, wie Chorheulen, Spritzharnen und neutrale Kontakte, tritt die Zunahme aggressiven Verhaltens im Herbst in der Regel jedoch etwas
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