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Der Wolf

Der Wolf

Titel: Der Wolf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erik Zimen
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verspätet auf, dann aber sehr plötzlich; ebenso klingt sie im
Frühjahr verzögert ab. Zudem beobachten wir eine deutliche Beruhigung aggressiver Auseinandersetzungen ab der
Mitte des Winters, zur Ranzzeit hin. Schließlich zeigen die
langjährigen Beobachtungen, daß der Prozentsatz aggressiven Verhaltens im Winter überproportional zunimmt,
also viel ausgeprägter ist als die Steigerung der allgemeinen Aktivitäten. Alle Verhaltensweisen erfahren offenbar
im Winter eine ähnlich endogen bedingte Antriebssteigerung, wobei die meisten Änderungen dem Sexualzyklus
entsprechend verlaufen. Die Aggressivität hingegen unterliegt offensichtlich zusätzlichen Einflüssen.
    Womöglich läßt sich der verzögerte Anstieg und der
verzögerte Abfall aggressiven Verhaltens so erklären : Im
Sommer ist das Rudel mit den Welpen beschäftigt, und die
endogene Komponente der aggressiven Handlungsbereitschaft ist gering. Dieser liegen vermutlich hormonelle Faktoren zugrunde, über die wir bei den Wölfen allerdings
noch wenig wissen. (Bei vielen anderen Tierarten ist hingegen ein Zusammenhang zwischen dem männlichen Sexualhormon Testosteron und dem aggressiven Verhalten nachgewiesen worden.) Im Herbst steigt dann die aggressive
Handlungsbereitschaft, doch die festen Rangbeziehungen
aus dem Sommer verhindern vorerst, daß es auch tatsächlich zu einem Anstieg aggressiven Verhaltens kommt. Erst
langsam werden die Beziehungen zwischen vielen Rudelmitgliedern gespannter. Bei den Welpen gibt es erste Ansätze
zu Rangauseinandersetzungen. Die Juvenilen zeigen eine
Expansionstendenz nach oben, die Älteren erste Unterdrückungsversuche nach unten. Schließlich kommt es zu
ausgetragenen Streitigkeiten und, als Folge davon, auch zu
ersten Rangwechseln. Veränderte Rangbeziehungen zwischen Einzelwölfen haben einen Einfluß auf viele weitere
Beziehungen, und die soziale Rangordnung wird von unten
nach oben zunehmend instabil. Schließlich kommt es auch
zu Auseinandersetzungen zwischen den älteren Wölfen
mit ihren sehr viel festeren Rangbeziehungen und damit
zu dem starken Anstieg aggressiver Verhaltensweisen.
    Als Folge dieser Auseinandersetzungen entsteht allmählich eine neue Rangordnung, ein neues Gleichgewicht, das
wiederum zu einem Abflauen aggressiven Verhaltens führt.
Die Ranz setzt ein, die mit vielen kleinen, lokalisierten Konflikten, aber zumeist ohne große Kämpfe vonstatten geht.
Nach der Ranzzeit verringert sich schlagartig die endogene
Antriebskomponente der Aggressivität ; das war in jedem
Jahr sehr deutlich vor allem am Verhalten des Alpha-Weibchens zu beobachten, das vor der Ranz zu einem großen
Teil für die hohe Aggressivität verantwortlich war, nachher aber immer deutlich freundlicher wurde. Dadurch läßt
die Unterdrückung der Subdominanten Weibchen nach.
Auch die Rüden werden ruhiger. Die Folge ist eine neuerliche Veränderung vieler Beziehungen, denn das bisherige
Gleichgewicht gerät aufgrund des nachlassenden Drucks
von oben wieder in Bewegung. Es kommt zu neuen Kämpfen, zu Rangwechseln, bis sich schließlich Anfang des Sommers mit seinen Aufgaben eine neue Ordnung einstellt und
das aggressive Verhalten wieder nachläßt.
    Anteil agonistischen Verhaltens am gesamten sozialen Verhalten (ohne Spielverhalten) im langjährigen Durchschnitt (21,52
Prozent). Die Säulen geben die durchschnittliche Abweichung
für jeden Monat an, die dünnen Striche die Extremwerte
eines jeden Monats.
    Demnach hat das aggressive Verhalten sowohl endogene
wie soziale Ursachen. Im Herbst verhindert die festgefügte
soziale Ordnung eine Zeitlang, daß die endogene Antriebssteigerung sich auch in offen ausgetragener Aggressivität
entlädt. Im Frühjahr ist es dann umgekehrt ; jetzt bedingen
gerade die Reduktion der endogenen Antriebe der Aggressivität und das damit verbundene Nachlassen von Unterdrückung und Spannung, daß die Reibereien zwischen den
Wölfen bei der Neuordnung ihrer Beziehungen zunächst
häufiger und intensiver werden. Es ist demnach die Rangordnung zwischen den Tieren, die im Herbst den verzögerten Anstieg, im Frühjahr den verzögerten Abfall des aggressiven Verhaltens bedingt. Aggressivität ist mithin weder
ausschließlich eine Frage spontaner endogener Antriebssteigerung noch ausschließlich ein sozial bedingtes reaktives Phänomen. Aggressives Verhalten entsteht vielmehr
bei der Auseinandersetzung des Individuums mit seiner
sozialen Umwelt in einem außerordentlich fein abgestimmten System

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