Der Wolf
einzelnen Tieren. Je höher der Rang, desto häufiger wurde der Wolf in Begleitung anderer Wölfe gesehen.
Das entspricht unseren Erwartungen. Während aber die
drei ranghöchsten Adulten etwa gleich häufig beieinander
zu sehen waren, hielten sich die anderen Rudelmitglieder
bevorzugt in der Nähe des Alpha-Rüden auf, auch die Welpen, nachdem sie sich im Alter von etwa einem halben Jahr
aktiv dem Rudel angeschlossen hatten. Eine besondere Präferenz für den »Chef« zeigte dabei der ranghöchste Rüde
unter den Juvenilen, der »Klein-Alpha«. (Die Ähnlichkeiten mit einer uns besonders vertrauten Art, der unsrigen,
sind manchmal fast komisch.)
Ähnliche Ergebnisse erbrachten die Versuche mit frei laufenden Wölfen im Bayerischen Wald. Im ersten Jahr nahm
ich dort häufig die zahmen Tiere mit auf lange Wanderungen. Mädchen war damals noch Alpha-Weibchen, Wölfchen
unangefochten die Nummer eins unter den Rüden, Näschen Nummer zwei und Alexander Nummer drei. Nachdem wir einige Zeit gelaufen waren, registrierte ich jede
zweite Minute die Abstände zwischen allen Wölfen. Das
erste, was mir dabei im Vergleich zu Rickling auffiel, war,
daß die Wölfe jetzt enger zusammenhielten. Warum ? Ich
glaube, das hing zusammen mit dem veränderten Status
der Tiere. In Rickling waren sie Welpen und später, im
juvenilen Alter, in der Rangordnung auf Subdominanten
Positionen gewesen. Nun aber waren sie adult und ranghoch, und die anderen jüngeren Wölfe im Gehege richteten
sich jetzt nach ihnen, was sich im freien Laufen bemerkbar
machte. Wie schon im Gehege zeigte es sich auch hier, daß
die hierarchische Struktur eines Wolfsrudels ganz wesentlichen Einfluß hat auf die Art und Weise, wie sich das Rudel
im Gelände bewegt.
Es war vor allem Wölfchen, der Alpha-Rüde, zu dem
die anderen ständig Kontakt suchten und der auch selber
immer wieder Kontakt herstellte. Am zweithäufigsten lief das
Alpha-Weibchen Mädchen eng bei einem anderen Wolf, am
häufigsten weiter weg lief der rangniedrigste Rüde Alexander. Auch hinsichtlich der Distanz, welche die Tiere zueinander einhielten, nahm Wölfchen eine zentrale Position
ein. Sowohl Mädchen als auch die beiden Subdominanten
Rüden hielten zu ihm geringere Distanz, während die Bindung zwischen Mädchen und Näschen (und noch deutlicher zwischen Mädchen und Alexander) eher indirekt über
ihre jeweilige Bindung zu Wölfchen zustande kam.
Diese Abstandsdaten wurden durch zwei weitere Versuche bestätigt. Gerade an jenem 1. September, als Näschen
weglief und die Untersuchungen dadurch ihr frühzeitiges
Ende fanden, registrierte ich anstatt der Abstände die Häufigkeit, mit der die Wölfe im Laufen zueinander Kontakt
aufnahmen. Die Initiative hierzu ging am weitaus häufigsten von Wölfchen aus, und ihm selbst galten auch die
allermeisten schnellen Kontaktaufnahmen. Auch die beiden Subdominanten Rüden nahmen relativ häufig zueinander Kontakt auf, selten hingegen zu Mädchen.
Bei einem weiteren Versuch ließ ich entweder jeweils nur
einen der vier adulten Wölfe frei laufen, während die anderen angebunden bei mir blieben, oder sie konnten alle bis
auf einen, der wiederum bei mir blieb, frei laufen. Beim
Vergleich der so gewonnenen Abstandsdaten zeigte sich,
daß alle vier Wölfe sehr viel häufiger Kontakt zu der großen als zu der kleinen bei mir laufenden Gruppe aufnahmen ; und abermals war es vor allem Wölfchen, der solche Kontakte besonders häufig herstellte. Er lief zeitweilig
minutenlang neben den anderen angeketteten Wölfen her
und entfernte sich nie weiter.
Alexanders Freiheitsdrang
Diese Wanderungen im Nationalpark waren eine Fundgrube für Beobachtungen individuellen Bindungsverhaltens und dessen Einflusses auf den Rudelzusammenhalt. So
wurde Wölfchen stets sehr unruhig, wenn die beiden Subdominanten Rüden sich gemeinsam entfernten. Er rannte
hinterher und hatte den Kontakt bald wiederhergestellt.
Dann war aber Mädchen weg. Wölfchen rannte an den
beiden Rüden vorbei, und in dem Moment, da er sie überholte, machte er plötzliche ruckartige Spielbewegungen im
Laufen, die offensichtlich die beiden zum Folgen animieren sollten. Wenn Alexander oder Näschen sich allein von
der Gruppe entfernten, war Wölfchen hingegen nicht so
beunruhigt. Dabei schien ihn besonders Alexander, der
Rangniedrigste, am wenigsten zu interessieren.
Vielleicht bilde ich mir das jetzt nachträglich nur ein,
weil es so schön ins Konzept paßt. Direkte Daten dazu habe
ich keine.
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