Der Wolf
Allerdings: Alexander gelang es sehr viel häufiger, bei diesen Wanderungen wegzulaufen, neunmal insgesamt, gegenüber dreimal bei Näschen (wenn auch einmal
für sehr lange Zeit) und keinmal bei Wölfchen und Mädchen. Das deutet nicht nur darauf hin, daß Alexander eine
größere Verselbständigungstendenz hatte als die anderen,
sondern auch darauf, daß Wölfchen ihn eher laufen ließ
als Näschen oder Mädchen.
Es war nicht schwierig herauszufinden, wohin Alexander
lief, nachdem er das Rudel verlassen hatte. Es ging jedesmal nach unten, aus dem Wald hinaus, zu den Dörfern, zu
Hunden, Müllhalden, Kinderspielplätzen. Wenn irgendeiner
meiner Wölfe das Zeug zur Domestikation gehabt hat – so,
wie sie vor 10 000 oder 15 000 Jahren einmal ablief –, dann
war es der freundliche, wenig schreckhafte und furchtbar
naschhafte Alexander. Die Leute kannten ihn bald und hatten nach anfänglichem Mißtrauen keine Angst mehr. Deswegen war ich auch nicht weiter beunruhigt, als wir eines
Tages mit Bernhard Grzimek und den Wölfen in den Hochlagen unterwegs waren und Alexander wieder einmal verschwunden war. Grzimek indessen schien es Sorge zu bereiten. Als ehemaliger Zoodirektor hatte er wahrscheinlich zu
viele negative Erfahrungen mit den Reaktionen der Bevölkerung wegen ausgebrochener Zootiere gemacht. Und der
Zoodirektor in ihm war es wohl auch, der, als wir nach langem Dauermarsch von Waldhäuser zurückkamen, einem
kleinen Mädchen antwortete. Es hatte ihn offensichtlich
gleich erkannt und fragte, ob wir einen Wolf suchten. »Nein«,
sagte Grzimek, »keinen Wolf, nur ein ganz kleines und
ungefährliches Wölfchen, das euch bestimmt nichts …«. –
»Dieser Wolf ist aber ganz groß«, unterbrach ihn das Mädchen und zeigte mit ihrer Hand, für wie hoch sie Alexander hielt, und das war nicht gerade klein. »Er war gerade
unten am Spielplatz und hat mit uns gespielt.«
Unterhalb von Waldhäuser ist tatsächlich ein Kinderspielplatz. Ich rannte los, brauchte aber nicht weit zu laufen : Alexander kam mir über die Wiesen entgegengelaufen. Als er mich sah, versuchte er natürlich wieder auszureißen, ließ sich aber wie üblich durch mein Kettenschwingen
und mein Gebrüll einschüchtern und schließlich anleinen.
Der Vater des kleinen Mädchens – es waren Feriengäste –
erzählte später, daß Alexander am Spielplatz mehrere Kinder beschnüffelt und dann mit einem Dackel Spielversuche
angestellt hatte. Einige Kinder wollten Alexander streicheln,
worauf er wieder in Richtung Dorf verschwunden war.
Wirklich, es müssen Wölfe wie Alexander gewesen sein,
die zu den Urvätern unserer Hunde wurden. Doch wie kein
anderer Wolf demonstrierte Alexander auch, wie abhängig
individuelles Verhalten vom sozialen Status ist. Nicht immer
war er so freundlich. Ein Jahr zuvor hatte er mich ja als
damaliger Alpha-Rüde angegriffen, und viele Jahre später,
wieder als Nummer eins, wehrte er sich gegen jeden Versuch,
ihn aus dem Gehege herauszunehmen. Er war Rudelmittelpunkt und dementsprechend auch selber ständig auf Kontakt zu seinen Rudelmitgliedern bedacht. Fremde Hunde
und auch Menschen, die früher überschwenglich begrüßt
worden waren, griff er jetzt hinter dem Zaun wütend an,
bis er seine ranghohe Position nochmals verlor und es ihn
wieder in die Fremde trieb, kontaktsuchend und gutmütig.
Besser, glaube ich, läßt sich der Einfluß sozialen Ranges auf
das Verhalten des Wolfes nicht demonstrieren.
Später hat Alexander als letzter Überlebender meiner
zahmen Wölfe viele Jahre mit mir und meiner Familie auf
einem Hof im Saarland gelebt. Er wurde auf seine alten Tage
sehr anhänglich, wobei er besonders liebevoll mit unseren
Kindern umging. Von allen Tieren auf dem Hof, die kleine
Kinder plagen oder ihnen gar gefährlich werden können –
bösartigen Hähnen, allseits verteidigungsbereiten Gantern,
von Hunden und Katzen, Füchsen, Mardern, auch einem
recht wilden Pony und vielen anderen Tieren –, war der
Wolf Alexander der friedlichste. Ihn konnten wir mit den
Kindern allein lassen, und die gegenseitige Zuneigung war
groß. Als er im Alter von achtzehn Jahren an Nierenversagen starb, haben wir ihn in unserem Garten begraben.
Umwelteinflüsse
Wie ich bei den Rudelwanderungen feststellen konnte, haben neben Status und Alter der Rudelmitglieder auch Umweltfaktoren einen Einfluß auf das räumliche Verhalten
des Rudels. Zuerst wertete ich das gesammelte Datenmaterial nach dem Bekanntheitsgrad des Geländes aus.
Weitere Kostenlose Bücher