Der Wolf
Ich
nahm an, daß die Wölfe enger in für sie fremden Gebieten
zusammenhalten würden. Die Ergebnisse bestätigten diese
Vermutung. Noch deutlicher wirkte sich die Geländestruktur aus : Im dichten Wald mit geringer Sichtmöglichkeit
hielten die Wölfe enger zusammen als auf Forststraßen,
die weite Sicht erlaubten. Dieses Ergebnis war ebenfalls
zu erwarten gewesen, denn die Wölfe halten ja hauptsächlich optischen Kontakt. Verwunderlich erschien mir hingegen zunächst die Beobachtung, daß die Wölfe bei steilem Anstieg eng zusammenhielten. Zuerst dachte ich gar
nicht daran, den Neigungswinkel des Geländes im Protokoll festzuhalten. Der Zusammenschluß der Wölfe beim
Aufstieg fiel aber bald auf. Daraufhin wurden auch die Neigungswinkel des Geländes für jede Beobachtung mitregistriert. Die gewonnenen Daten zeigen, daß meine Intuition richtig war – was aber eigentlich nicht so erstaunlich
ist, denn auch Wölfe müssen sich beim längeren Steigen
mehr anstrengen. Dabei machen sie – wie wir Menschen
auch – keine überflüssigen Abstecher, Zwischenspurts oder
Spiele, sondern laufen gleichmäßig schnell, und dadurch
auch enger geschlossen, den Berg hinauf.
Weiter fiel mir auf, daß die Wölfe im Gelände einen einmal eingeschlagenen Weg oder eine Laufrichtung ungern
verließen. Bei den Wanderungen lief ich lange Zeit einfach den Wölfen nach ; sie bestimmten sozusagen die Richtung. Das ging aber nicht immer gut. Entlang dem Hochkamm des Bayerischen Waldes verläuft die deutsch-tschechische Grenze, die auch damals nur durch eine Schneise
im Wald markiert war. Es wäre für die Wölfe vielleicht, für
mich aber bestimmt mit unerfreulichen Folgen verbunden
gewesen, hätten wir sie überschritten. Unterhalb des Nationalparks sind auch besiedelte Gebiete, in die ich gleichfalls
nicht mit den frei laufenden Wölfen hineinwollte. Also
mußte ich mehrmals am Tag die Marschrichtung doch selber bestimmen und ändern, und jedesmal hatte ich dabei
Schwierigkeiten, die Wölfe mitzuziehen. Meistens mußte
ich einen oder zwei von ihnen an die Kette nehmen, um
durch einfache Muskelkraft die neue Richtung für alle zu
bestimmen.
Einfluß der Gruppengröße
Die Schwierigkeit, die Laufrichtung der Wölfe zu ändern,
wirft die Frage nach der Führung im Rudel auf. Bevor wir
dieses Problem angehen können, müssen wir jedoch nach
dem Einfluß der Gruppengröße auf das räumliche Verhalten des Einzelwolfes fragen. Im Bayerischen Wald wollte
ich hierzu einige Versuche durchführen. Näschens Ausbruch durchkreuzte indes meine Pläne. Vorher hatte ich
aber in Rickling schon einige Versuche gemacht, und von
diesen möchte ich kurz berichten.
Die Versuche fanden im Sommer 1968 statt, als Alexander und seine Geschwister anderthalb Jahre alt waren. Fast
jeden Tag seit ihrer Welpenzeit war ich mit ihnen und Anfa
unterwegs gewesen, wobei stets ich und die angeleint laufende Anfa die Laufrichtung bestimmt hatten. Wir waren
sozusagen die Führungsgruppe gewesen, nach der sich die
vier jungen Wölfe richteten. Mir ging es jetzt darum herauszufinden, wie stark der Einfluß der Führungsgruppe auf
den Entscheidungsprozeß jedes einzelnen der Jungwölfe war.
Dazu wurden drei von ihnen ebenfalls angeleint, und nur
einer, das zu testende Tier, konnte frei laufen. Bei jedem
Versuch wechselten wir das Testtier. Der Versuch selbst war,
wenigstens nach der Planung, einfach. Mit Hilfe von Dagmar und später mehreren, allen Wölfen bekannten Kollegen aus dem Institut bildeten wir zwei Gruppen, die sich
nach einigen Minuten gemeinsamen Weges trennten und
in einem Winkel von etwa neunzig Grad auseinanderstrebten. Beim ersten Versuch nahm ich neben Anfa, die immer
bei mir lief, einen weiteren Jungwolf, und Dagmar hatte die
anderen beiden. So trennten sich zwei gleich große Gruppen. In der nächsten Kombination nahm Dagmar alle drei
Jungwölfe, während ich allein mit Anfa ging. Danach ging
in der Gruppe von Dagmar und den drei Jungwölfen ein
Freund mit, dann zwei und schließlich drei oder noch mehr
Personen. Dadurch wurde die von der traditionellen Führungsgruppe – Anfa und mir – sich abtrennende Gruppe
immer größer.
Trotz aller Schwierigkeiten und häufigen Suchens nach
entlaufenen Wölfen waren die Ergebnisse sehr interessant.
Bei der Trennung in zwei gleich große Gruppen liefen alle
getesteten Wölfe jedesmal mit der Führungsgruppe, also
Mit wem soll ich laufen? Die Trenn-Versuche in Rickling,
mit Anfa, mir und einem weiteren
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