Der Wolfsthron: Roman (German Edition)
nötig, aus dem immer noch gefrorenen Boden ein tiefes Grab auszuheben. Er sprach mit den Steinmetzen über einen geeigneten Gedenkstein. Und die ganze Zeit über quälte er sich mit dem Gedanken, wie er Raisa auf sicherem Weg hierherbringen und wieder wegschaffen lassen konnte, ohne sie dem Zugriff derjenigen auszusetzen, die nur zu gern das Werk vollenden würden, das sie begonnen hatten.
Sobald sie nach Fellsmarch zurückgekehrt waren, besprach Amon sich erneut mit seinem Wolfsrudel und gab ihnen vorläufige Anweisungen für den Tag der Gedenkfeier. Sie würden erst im letzten Moment von Prinzessin Raisa erfahren. Er vertraute seinen Wölfen, aber je weniger sie wussten, desto geringer war die Gefahr, dass irgendetwas durchsickerte.
Die Urne mit der Asche seines Vaters ließ er bei Redner Jemson zurück. Sie würde bis zur Gedenkfeier im Kathedralen-Tempel aufgebahrt werden, von wo aus Amon und seine Wölfe sie dann zur Begräbnisstätte eskortierten.
Später am Abend gelang es ihm endlich, seine Familie bei einem gemeinsamen Essen wiederzusehen, seinen Bruder Ira und seine Schwester Lydia. Lydia, die drei Jahre älter war als Amon, hatte kürzlich geheiratet und erwartete ein Kind. Sie und ihr Ehemann Donnell Graves, ein Kaufmann, hatten ein Haus im Schlossbezirk gemietet, da viele ihrer Aufträge für Gemälde von den wohlhabenden Adeligen kamen, die in dieser Gegend lebten. Nach dem Tod von Edon Byrne würde Ira von nun an bei Lydia wohnen, bis es für ihn an der Zeit war, zur Akademie zu gehen.
Lydia hätte es vorgezogen, wenn ihr Vater neben ihrer Mutter in der Byrne-Gruft beigesetzt worden wäre, aber es war nicht das erste Mal, dass sie ihre Wünsche zum Wohle der Königin und des Reiches zurückstellte.
Es gab so vieles, worüber sie reden mussten – die gemeinsamen Erinnerungen, die gemeinsame Trauer –, sodass sie ihn nur ungern wieder gehen ließen. Als Amon schließlich sein Pferd aus dem Stall bei den Unterkünften holte, um nach Marisa Pines zurückzureiten, war es daher schon ziemlich spät. Während er den Wallach durch die Stalltüren in den Innenhof führte, nahm er eine Bewegung in den Schatten wahr.
Amon vermutete jemanden von seinen Kameraden, der nach der vorherigen Schicht entweder noch länger geblieben oder für die nächste zu früh dran war. »Wer ist da?«, rief er leise.
Doch die große Gestalt, die jetzt ins Licht trat, war kein Mitglied der Wache der Königin.
»Was tut Ihr hier?«, fragte Amon und zog sein Schwert, richtete die Spitze allerdings auf den Boden.
Micah Bayar trat vor. Er hatte die Hände erhoben und streckte die Handflächen nach vorne, um zu zeigen, dass er sein Amulett nicht berührte. »Entspannt Euch, Korporal Byrne. Ich will Euch nichts tun. Ich will nur mit Euch reden.«
»Das ist schade, Bayar, denn ich will nicht mit Euch reden«, sagte Amon, während er sich vergegenwärtigte, was er wusste und was er nicht wusste, und was er zugeben und was er nicht zugeben konnte. »Habt Ihr die ganze Zeit auf mich gewartet?«
Micah nickte. »Ich habe in den Unterkünften nach Euch gesucht, aber es scheint, als würdet Ihr dort nicht wohnen.« Er machte eine Pause. Als Amon nichts erwiderte, wurde er ungeduldig. »Wieso seid Ihr nicht in den Unterkünften? Wo wohnt Ihr?«
»In den Unterkünften ist es zu voll. Zu viele neue Gesichter. Und wo ich wohne, geht Euch nichts an.« Amon wäre gern aufgestiegen, aber er wusste, dass ihn das für einen magischen Angriff verletzbar machte. »Also, wenn es sonst nichts gibt …«
Micah trat in den Torweg, der vom Innenhof wegführte. »Ich möchte wissen, ob Ihr etwas von Prinzessin Raisa gehört habt und wisst, wo sie ist.«
»Prinzessin Raisa?« Amon setzte eine verblüffte Miene auf. »Woher soll ich wissen, wo sie ist? Ihr habt doch gehört, was ich beim Regentschaftsrat gesagt habe. Ich war die ganze Zeit in Odenford, genauso wie Ihr.«
Micah zwickte die Augen zusammen. »Lügt mich nicht an. Ich weiß, dass Ihr sie nach Odenford mitgenommen habt. Ich weiß, dass Ihr sie dort versteckt habt.«
Amon schnaubte. »Nur, damit ich klarsehe: Ihr glaubt, die Erbprinzessin des Reiches ist mit einem Kadetten weggelaufen und hat fast ein Jahr lang in einer Militärakademie gelebt?« Irgendein Teufel ließ ihn hinzufügen: »Wieso sollte sie so etwas tun … sofern sie nicht vollkommen verzweifelt von hier wegkommen wollte?«
Micah machte ein finsteres Gesicht. Der Hieb hatte gesessen. »Ich weiß, dass sie in Odenford
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