Der Wolfsthron: Roman (German Edition)
vorbei an dem Kleiderständer in der Ecke mit ihrem Ballkleid daran. Sie schlüpfte geradewegs in ihren Wandschrank und schob die Kleider beiseite, sodass sie die Rückwand erreichen konnte. Nachdem sie alle Riegel und Bolzen, auf die Amon bestand, entfernt hatte, drückte sie mit den Händen gegen die verborgene Tür. Sie verschob sich lautlos.
Raisa fand den Weg durch den dunklen Tunnel, indem sie sich an den Wänden entlangtastete. Sie machte sich nicht die Mühe, eine Fackel zu entzünden. Schließlich wurde der Gang etwas breiter, und sie wusste, dass sie den Fuß der Leiter erreicht hatte, über die sie in den gläsernen Garten gelangte.
Blind griff sie nach einer der Sprossen und fing an, hinaufzuklettern.
Oben angekommen drückte sie mit beiden Händen gegen die Metallplatte, die den Eingang verdeckte, und schob sie ein Stück zur Seite. Es war bereits richtig dunkel, als sie schließlich in den Tempel auf dem Dach des Schlosses kletterte, obwohl der Mond gerade aufging.
Raisa betrat den labyrinthartigen Garten, der den Tempel umgab, und atmete die feuchte Luft unter dem gläsernen Dach des Gewächshauses ein, die stark nach Hyazinthen und Bergjasmin duftete. Über ihr erstreckte sich das riesige, sternenübersäte Himmelszelt, bei dessen Anblick sie sich plötzlich sehr, sehr klein fühlte. Zu klein für die Bürde, die sie auf sich genommen hatte.
Sie trat an den Rand der Dachgartens und blickte nach unten auf die Stadt. Magische Lichter säumten die Gassen und leuchteten in Türeingängen. Kutschen ratterten über die Straße der Königinnen, zweifellos unterwegs zu der einen oder anderen Party. Musik wehte zu ihr hoch – eine Basilka, wie es klang, die Hanaleas Klagelied spielte.
Raisa erschauerte und drehte sich um.
Sie kehrte zu dem kleinen Tempel zurück, kniete sich auf den Steinboden und begann, mit leiser, inbrünstiger Stimme mit der Königinnen-Meditation.
»Gegrüßt seid ihr, Marianna ana’ Lissa ana’ Adra ana’ Doria ana’ Julianna ana’ Lara ana’ Lucinda ana’ Michaela ana’ Helena ana’ Rissa ana’ Rosa ana’ Althea ana’ Isabella …« Sie fuhr fort und zählte alle zweiunddreißig Königinnen seit der Großen Zerstörung auf und endete, wie immer, mit Hanalea ana’ Maria. »Hört mich an! Eure Tochter Raisa ruft euch.«
Während sie weitersprach, begann die Luft im Tempel zu schimmern und ihn in Nebel zu hüllen. Die vertrauten Schemen der Grauwolf-Königinnen traten jetzt hervor und ließen sich in einem Kreis um sie herum nieder, die Wolfsschwänze um die Pfoten geschmiegt.
Da waren die grünäugige Althea und die grauäugige Hanalea. Und die blauäugige Wölfin, die Raisa bei der Beerdigung ihrer Mutter gesehen hatte, schlank und anmutig, mit hellem Fell und kleinen, zarten Pfoten. Ihre Gestalt schimmerte licht, geradezu körperlos. Für einen Moment dachte Raisa, das Bild einer Frau erkennen zu können.
Raisa rutschte auf den Knien nach vorn. »Mutter?«, flüsterte sie mit zittriger Stimme.
Die blauäugige Wölfin zog den Kopf ein, als würde sie sich schämen, dann drehte sie sich um und verschwand im Nebel.
»Ja«, sagte Althea. »Das war Marianna. Sie hat ihre Wolfsgestalt leider noch nicht angenommen.«
»Aber …« Raisa streckte ihre Hände aus, als könnte sie ihre Mutter zurückholen. »Ich muss mit ihr reden. Ich muss wissen, was passiert ist. Ob es ein Unfall war. Oder ob …«
»Sie wird nicht in der Lage sein, mit dir zu sprechen«, erklärte Hanalea. Ihre grauen Augen blickten freundlich und traurig zugleich. »Auch in den nächsten Monaten noch nicht. Was wir tun – uns über den Schleier hinweg mit dir zu unterhalten –, ist unnatürlich. Es dauert einige Zeit, dies zu beherrschen.«
Die Bedeutung dieser Aussage wurde Raisa nur langsam klar, wie ein kühler Luftzug, der unter einer Tür hindurchstrich. »Nun, aber ich muss wissen – hat sie sich selbst umgebracht? War es ein Unfall? Und wenn nicht, wer hat sie dann getötet?« Sie sah von Hanalea zu Althea und hoffte, in den Wolfsgesichtern etwas erkennen zu können.
Die Grauwolf-Königinnen schauten einander an. Althea legte die Ohren zurück und zeigte Hanalea die Zähne. Hanalea zuckte mit den Schultern, sofern man so etwas von Wölfen sagen konnte.
»Wir haben das große Vorrecht, in den Spirits bleiben zu können«, sagte Althea. »Wir wachen über die Stadt des Lichts, statt ins Schattenland weiterzuziehen. Vorrechte sind jedoch mit Beschränkungen verbunden. Wir können den
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