Der Wolfsthron: Roman
Gift.
»Nightwalker. Geh jetzt. Ich muss mich umziehen. Wir müssen bald aufbrechen.«
Das doppeldeutige Lächeln machte nur allzu deutlich, wie gern er geblieben wäre und zugesehen hätte. Aber trotzdem verschwand er durch die Vorhänge ins andere Zimmer.
Raisa seufzte. Wann immer sie mit Nightwalker zusammen war, fühlte sie sich bedrängt – persönlich und in jeder anderen Hinsicht. Sie musste seine unnachgiebige Eindringlichkeit irgendwie kanalisieren. Er machte sie mürbe.
Sie vermisste Amons Zuverlässigkeit. Er war nach Fellsmarch zurückgeritten, um dabei zu sein, wenn die Asche seines Vaters vom Kathedralen-Tempel zur Begräbnisstätte gebracht wurde. Averill war ebenfalls wieder in der Stadt; er würde Mariannas Bahre zur Gedenkfeier begleiten. Raisa blieben die Demonai, Han Alister und Fire Dancer. Das war alles, und es würde genügen müssen. Sie hoffte nur, dass sie sie daran hindern konnte, sich gegenseitig an die Kehle zu gehen.
Raisa zog gerade ihre Stiefel an, als sie Stimmen aus dem Nebenraum hörte. Sie streckte ihren Kopf zwischen den Vorhängen hindurch und sah Han Alister und Reid Nightwalker; sie umkreisten sich wie Alphawölfe, mit aufgestellten Nackenhaaren und beinahe gefletschten Zähnen.
Han war so schön gekleidet, wie sie ihn noch nie zuvor gesehen hatte: von oben bis unten in Schwarz mit einer grauen Borte am Hals und an den Ärmeln. Sein Hemd fiel locker über seinen Körper und brachte seine verführerisch schlanke, muskulöse Gestalt zur Geltung. Das Einsame-Jäger-Amulett glitzerte auf dem schwarzen Stoff, der seine hellen Haare und die blauen Augen noch mehr als sonst betonte.
»Was geht hier vor?«, fragte sie und sah von einem zum anderen.
»Ich habe ihm gesagt, dass er nicht einfach reingehen kann, während Ihr Euch anzieht. Und er hat sich widersetzt«, berichtete Nightwalker. Seine Haltung ließ erkennen, wie viel Mühe es ihn kostete, seine Aggression zu kontrollieren.
»Ich wollte Euch nur wissen lassen, dass ich da bin.« Han warf Raisa einen kurzen Blick zu, ehe er sich wieder Nightwalker zuwandte. »Ich habe etwas zu tun und nicht viel Zeit, wenn wir nicht zu spät zur Zeremonie kommen wollen.«
»Ich bin bereit«, sagte Raisa und holte tief Luft. »Beginnen wir.«
Han sah Nightwalker weiter an und machte eine ruckartige Bewegung mit dem Kopf in Richtung Ausgang. »Raus.«
»Ich bleibe«, sagte Reid Demonai und verschränkte die Arme vor der Brust. Er stellte sich noch breitbeiniger hin, als hätte er vor, sich nicht mehr von der Stelle zu rühren.
»Wir sollten das allein tun, Eure Hoheit«, sagte Han. »Wenn ich Euch beschützen soll, ist es wichtig, dass so wenig Leute wie möglich wissen, was ich vorhabe.«
Während Han mit Raisa sprach, ignorierte er Nightwalker komplett. Nun, dachte Raisa, endlich mal was Neues. Seit sie ihm ihre wahre Identität gestanden hatte, hatte Han nur so oft und so lange wie unbedingt nötig mit ihr gesprochen. Es war, als hätte er für jedes Wort einen hohen Preis zahlen müssen.
»Ich lasse dich nicht mit der Erbprinzessin allein«, sagte Nightwalker. »Angesichts der Tatsache, dass die Fluchbringer in der Vergangenheit ständig die Königinnen beeinflusst haben, ist das zu riskant.«
Die beiden hassen sich, dachte Raisa, und dieser Hass scheint weit über den üblichen Argwohn zwischen Magiern und Clans hinauszugehen. Denn eigentlich müsste Han sich bei den Spirit-Clans wie zu Hause fühlen, da er sich von Kindesbeinen an regelmäßig hier aufgehalten hat. Und so lange ist er ja noch gar kein Magier.
Ein Räuspern riss sie aus ihren Gedanken. Sie sah auf und stellte fest, dass beide sie ansahen und auf eine Entscheidung warteten.
»Ich kenne Nightwalker seit vielen Jahren«, sagte Raisa zu Han. »Er wird heute Mitglied meiner Leibwache sein. Wenn ich ihn mit dieser Aufgabe betrauen kann, dann wird er sicherlich auch …«
»Ich will nicht, dass er dabei ist und mich ablenkt«, unterbrach Han sie. »Es ist so schon schwer genug.«
»Also gibst du es zu«, sagte Nightwalker. »Du weißt nicht, was du tust.«
»Das ist genau die Art von unwissendem Dummgeschwätz, die ich nicht gebrauchen kann, während ich arbeite«, stellte Han fest und sah Raisa mit hochgezogenen Augenbrauen an, als wollte er sagen: Siehst du?
»Er bleibt«, bestimmte Raisa und fühlte sich wie eine Schiedsrichterin auf dem Schulhof. »Aber seid still, Nightwalker, und lasst Alister seine Arbeit tun, sonst seid Ihr raus.«
Mit einer kurzen
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