Der Wolfsthron: Roman
nicht den Bildern, die er von Hanalea gesehen hatte. Die legendäre Königin war groß und blond und gertenschlank gewesen und hatte eine lange Lockenmähne gehabt. Diese Königin war klein, ihre dunklen Haare waren kurzgeschnitten, und die grünen Augen leuchteten auf honigfarbener Haut. Und doch wirkte sie wie eine Kriegerin, in eine Rüstung gehüllt, mit dem Schwert in ihrer Hand, sich Tausenden entgegenstellend.
»Normalerweise würde diese Zeremonie erst bei meiner Krönung vollzogen werden«, sagte sie. »Normalerweise würde das Schwert Hanaleas von einem Hauptmann an den nächsten weitergereicht werden. Aber dies sind keine normalen Zeiten. Königin Marianna und ihr Hauptmann sind innerhalb weniger Tage gestorben. Es scheint mir wichtig zu sein, die Verbindung zwischen dem Hauptmann und der Königin so bald wie möglich zu erneuern, damit unsere Feinde nicht denken, dass sie unsere Verluste ausnutzen können. Aus dem gleichen Grund wird auch meine Krönung so bald wie möglich stattfinden«, fügte sie hinzu. Ihr Blick schweifte über die Menge auf den Hängen und dem Podest. »Zu viele Dinge liegen vor uns, die keinen Aufschub dulden.«
Sie sah Amon Byrne an. »Kniet nieder«, befahl sie.
Byrne sank auf die Knie und versuchte dabei weiterhin Haltung anzunehmen, während sein Blick auf Raisa gerichtet war.
Raisa berührte erst die eine, dann die andere Schulter mit der flachen Seite der Klinge. »Erhebt Euch, Hauptmann Amon Byrne, Befehlshaber der Wache der Königin.«
Han sah zu den Bayars hinüber, gerade rechtzeitig, um mitzubekommen, wie Micah und Fiona einen raschen Blick wechselten. Lord Bayar neigte den Kopf zu dem General neben ihm, der ihm etwas ins Ohr flüsterte. Bayars Gesicht war vollkommen ausdruckslos.
Prinzessin Mellony wirkte angesichts all dieser Ereignisse, die aus heiterem Himmel über sie hereinbrachen, ein wenig durcheinander. Sie umklammerte fest die Stuhllehnen, und ihre blauen Augen waren weit aufgerissen. Ihr Blick wanderte von Raisa zu Amon, und dann zu Micah, als suchte sie nach etwas.
Aber Micah sah Raisa mit einem leichten Lächeln an, das voller widerstrebender Bewunderung war.
Sie wissen, dass sie ausgetrickst worden sind, dachte Han. Je mehr Raisa hier in der Öffentlichkeit erreicht, vor all den Zeugen, desto weniger kann ihr später hinter verschlossenen Türen aufgezwungen werden.
Han machte sich zwar keine Illusionen, dass sie sich dadurch wirklich aufhalten lassen würden, aber wenigstens erschwerte es ihnen ihr Vorhaben. Raisa war mit ihrer Gang in ihr altes Viertel marschiert und hatte eine Show vor denjenigen abgezogen, die sie herausfordern wollten.
Und sie hatte ihre Sache gut gemacht.
Inzwischen war der Scheiterhaufen der Königin vollständig zu Asche verbrannt, unterstützt durch die heiligen Öle des Redners. Raisa lächelte ihre Schwester an, nahm ihre Hände und zog sie sanft auf die Beine. Sie umarmte Mellony erneut, und ihre jüngere Schwester überragte sie dabei. Sie führte Mellony zu den Flammen, wo sie Hand in Hand stehen blieben. Während Han zusah, beugte Raisa sich zur Seite und flüsterte Mellony etwas ins Ohr.
Redner Jemson streute ein Pulver in die Flammen. Eine grauweiße Rauchschwade stieg in Spiralen auf und verwandelte sich in eine schlanke, feingliedrige Wölfin mit blauen Augen. Sie schwebte herab, landete leichtfüßig auf dem Boden und ging dann ein wenig steifbeinig und mit leicht gesträubter Fellkrause zu den anderen Wölfinnen, um ihre Nase an den ihren zu reiben.
Donner grollte über Hanalea, und dann platschte der Regen in riesigen Tropfen herunter, die auf dem Podest zerbarsten. Die Wölfe drehten sich um und liefen davon, verschwanden in der regengeschwängerten Luft.
KAPITEL FÜNFUNDZWANZIG
Heimkehr
E s war ein großartiger Tag gewesen.
Es war ein schrecklicher Tag gewesen.
Nie hatte sich Raisa kühner gefühlt.
Nie hatte sie sich mehr gefürchtet.
Nie war sie einsamer gewesen.
Nie hatte sie sich mehr geliebt gefühlt.
Und jetzt war sie unterwegs nach Hause.
Der glühende Mut, der sie während der langen Gedenkfeier an Mariannas Grab befeuert hatte, war erloschen, und an seine Stelle war Erschöpfung getreten. Sie ritt inmitten ihrer Leibwache, Amon rechts vor ihr und Han links hinter ihr, und überall um sie herum waren Demonai-Krieger. Auch Reid Nightwalker und ihr Vater Averill, Lord Demonai, waren stets in Sichtweite.
Hinter ihnen folgte ihre frühere Amme Magret Gray mit den anderen Maiden von Hanalea.
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