Der Wolfsthron: Roman
versuchten und sie als Kinderdiebe und Schlimmeres bezeichneten. Sie waren nicht daran gewohnt, so viele Clan-Leute auf einmal in der Stadt zu sehen.
Süße Herrin in Ketten, dachte Raisa. Irgendwie muss ich es schaffen, alle meine Leute unter einen Hut zu bringen – die Magier, die Bewohner des Vales und die Clans. Wir haben schon viel zu viel Energie damit verschwendet, uns gegenseitig zu bekämpfen. Das macht uns verletzbar.
Verletzbar – bei diesem Gedanken fuhr sie mit der Hand in den Beutel an ihrer Taille, zog ihren Talisman, den Wolfsring, heraus und steckte ihn sich wieder auf den Finger. Es schien ihr unwahrscheinlich, dass es zwischen hier und zu Hause einen magischen Angriff geben würde, aber dennoch. Sie fühlte sich besser so.
Weiter vorn konnte Raisa die glitzernden Türme von Fellsmarch Castle über den anderen Gebäuden aufragen sehen – ein Anblick, der ihr schier das Herz zerriss. So viel war geschehen, seit sie das Schloss zum letzten Mal gesehen hatte. Schnell schluckte sie ihr Bedauern hinunter wie einen Brotteig, bevor er zum zweiten Mal aufgehen konnte. Lerne daraus, dachte sie, aber verschwende keine Kraft auf etwas, das nicht mehr zu ändern ist.
Es tat so gut, wieder zu Hause zu sein. Sie sah sich um und sog alle Einzelheiten in sich auf, die sie so lange vermisst hatte – die gewundenen Seitengassen, die Stufen, die in die Straßen gebaut worden waren, um die Hänge in den äußeren Bereichen der Stadt zu erklimmen, den nördlichen Akzent der Stimmen um sie herum, und ja, auch den Gestank von gekochtem Kohl und Holzfeuer und von dem Schmutz, der in den Abwasserkanälen floss.
Sie holte tief Luft und atmete aus, ließ die Schultern entspannt hängen und freute sich bereits auf ein heißes Bad und das gute Essen des Nordens. Währenddessen nahm sie plötzlich eine Bewegung wahr, auf dem Dach eines Gebäudes etwas weiter vorn. Eine dunkle Silhouette erhob sich geschmeidig, verharrte und zielte sorgfältig. Instinktiv beugte Raisa sich seitlich nach unten. Sie öffnete den Mund, um eine Warnung zu rufen.
Amon fluchte und machte einen Satz auf sie zu. Da prallte etwas mit der Wucht eines Faustschlags gegen ihre rechte Brust, riss sie beinahe vom Pony und trieb ihr Tränen in die Augen.
Ein Tumult brach aus. Bevor Raisa überhaupt richtig begriff, was geschah, hatte Amon sie schon aus ihrem Sattel gehoben und vor sich auf seinen gepackt, wo er sich über sie beugte und mit seinem Körper schützte.
»Aus dem Weg!«, brüllte er mit rauer, fremder Stimme und drängte sein Pferd zum Galopp, als wäre er bereit, jeden Narren über den Haufen zu reiten, der nicht aus dem Weg sprang.
Plötzlich flogen Steine und Ziegel durch die Luft, als ein magischer Blitz das Dach traf, von wo aus der Schütze gezielt hatte. Es war Han Alister, der jeden weiteren Attentatsversuch im Keim ersticken wollte.
»Mellony«, keuchte Raisa. »Bringt meine Schwester in Sicherheit.«
Überall um sie herum flackerte es blau auf; sie atmete den scharfen Geruch von magischen Flammen ein, hörte laute Befehle und das Surren von Langbögen. Sie sprengten in die breiteren, geraderen Straßen in der Nähe des Schlosses und jagten dann durch das Tor, das zum Schlossgelände führte.
Aber auch jetzt verringerte Amon das Tempo nicht. Raisa konnte den Schlossgraben riechen und das hohle Klappern von Hufen auf Holz hören, als sie in wahnsinniger Geschwindigkeit die Zugbrücke überquerten. Sie passierten das Fallgatter und erreichten den Innenhof von Fellsmarch Castle.
Das Fallgatter rasselte hinter ihnen nach unten.
Sie war zu Hause.
Raisa hob den Kopf und drehte ihn so, dass sie sich umsehen konnte. Überall im Hof waren Blaujacken und aufgeregte Pferde. Zu ihrer Erleichterung entdeckte sie Mellony; ihre Schwester saß immer noch auf ihrem Pony, das jetzt Mick Bricker führte. Sie wirkte so bleich wie Pergament, aber offensichtlich war sie unverletzt.
Han und sein Freund Fire Dancer postierten sich im Torbogen, der zur Zugbrücke führte, und packten ihre Amulette, als müssten sie ganze Horden von rasenden Attentätern bekämpfen.
»Ruft einen Heiler!«, brüllte Amon direkt in Raisas Ohr. »Die Prinzessin ist angeschossen worden.«
Raisa tastete mit den Fingern gleich unterhalb des Schlüsselbeins über den Brustharnisch. Er war ziemlich stark eingedellt und halbwegs durchbohrt worden, aber er hatte den Pfeil des Attentäters abgehalten – sofern es einer gewesen war. Das Geschoss musste auf die Straße
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