Der Wolfsthron: Roman
Nein«, sagte Raisa mit lauter, tragender Stimme. »Eher heirate ich den Dämonenkönig persönlich als Euch. Ich schlage vor, Ihr sucht woanders nach einer Braut. Und möge der Himmel der Frau beistehen, die Ihr erwählt.«
Zwei Flecken tauchten auf Montaignes blassen Wangen auf, aber Raisa konnte nicht erkennen, ob es vor Wut oder vor Scham war, weil sie ihn öffentlich zurückgewiesen hatte.
Er neigte den Kopf ein klein wenig, aber seine blauen Augen waren so fahl und kalt wie windgepeitschtes Eis. »Vielen Dank, Eure Majestät, dass Ihr mir gegenüber so direkt seid. Einen schönen Abend noch.«
Raisa sah ihm mit gemischten Gefühlen nach. Sie war erleichtert, dass sie die Scharade, eine Heirat mit Montaigne ernsthaft in Betracht zu ziehen, endlich beendet hatte. Aber sie wusste auch, dass er einen Weg finden würde, sie für diese öffentliche Demütigung bezahlen zu lassen.
Ich hätte zulassen sollen, dass Cat ihn tötet, dachte sie.
KAPITEL SIEBENUNDDREISSIG
Krönung
D er Krönungsball war das Fest für die Adeligen, die Magier und die Offiziere – die Blaublütigen, wie Han sie nannte. Das Volk des Vales wurde zur Krönungsfeier am darauffolgenden Tag eingeladen. Und in den Spirits würde es außerdem noch ein Fest für die Clan-Leute geben.
Selbst wenn es ums Feiern ging, war Raisas Volk geteilt.
Vor der Krönungsfeier am nächsten Tag stand die Tempelzeremonie an. Magret half Raisa in ihr Tempelgewand und legte ihr das clangearbeitete, kunstvoll bestickte Krönungsgewand über die Schultern. Es war mit Juwelen besetzt und so schwer, dass Raisa unter dem Gewicht fast taumelte.
Es schien ihr wie ein Symbol für die Last der Verantwortung, die jetzt auf ihren Schultern lag.
Als sie so weit war, kamen ihr Vater Averill, ihre Schwester Mellony, ihre Kusine Missy Hakkam und ihre Großmutter Elena, um sie zum Kathedralen-Tempel zu begleiten. Amon war ebenfalls da, ernst und herzzerreißend gutaussehend in seiner blauen Uniform. Hinter ihm standen die anderen Grauwölfe. Raisa schluckte gegen einen Kloß in ihrer Kehle an.
Han Alister trug jenen von Willo gefertigten Umhang in Schwarz und Silber, den er auch bei der Beerdigung von Marianna getragen hatte, mit dem grauen Wolf und dem Raben auf den Stolen und der Schlange und dem Stab auf dem Rücken. Über dem Gewand hing etwas um seinen Hals, das Raisa inzwischen als sein Hofamulett bezeichnete: ein lichtdurchlässiger Stein in der Gestalt eines Jägers. Sie wusste, dass er direkt auf der Haut das Schlangenstabamulett trug.
Sein Blick begegnete dem von Raisa, und es knisterte zwischen ihnen vor Spannung, Energie, Geheimnissen. Dann erblickte er den Ring mit den Perlen und den Mondsteinen, den sie an ihrer Wolfsring-Hand trug. Er verbeugte sich tief, und seine Stolen berührten fast den Boden. Seit wann wirkte es so, als würde er an den Hof gehören?
Hatte sie sich im vergangenen Jahr so sehr verändert?
Mellony und Missy stellten sich hinter Raisa und ergriffen jeweils ein Stück ihres Gewandes. Sie würden ihr helfen, die Schleppe zu tragen.
»Nur gut, dass ich das hier nicht mehr als einmal anziehen muss«, murmelte Raisa. »Es ist unmöglich, darin zu tanzen.«
Magret hantierte an den Falten von Raisas Gewand herum, um es hier und da noch ein letztes Mal zurechtzuzupfen. Die frisch ernannte Meisterin der Kammerzofen trug ein schönes graues Wollkleid, und um ihren Hals glitzerte der Anhänger der Maiden.
»Es ist gut«, sagte Raisa und nahm Magrets Hände. »Danke für alles, was du für das Geschlecht getan hast und noch tun wirst.« Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihre ehemalige Amme auf die Wange, die nass und salzig von Tränen war.
Amon kam und stellte sich an Raisas rechte Seite, Han an ihre linke. Es fühlte sich gut an, sie beide dort zu wissen.
»Gehen wir«, sagte sie und hob das Kinn.
Sie schritten die langen Korridore entlang, und der schwere Brokatstoff ihres Gewandes schleifte über die Marmor- und Steinböden. Die Gänge des Schlosses lagen beinahe verlassen da – alle, die irgendwie wichtig waren, befanden sich bereits im Tempel. Allerdings standen die Bediensteten in den Türeingängen und säumten Raisas Weg. Selbst die Köche und das Küchenpersonal unterbrachen für ein paar Minuten die Vorbereitungen für das Festessen an diesem Abend, um zum letzten Mal zu sehen, wie die Erbprinzessin die Gänge entlangschritt.
Wenn sie sie das nächste Mal sahen, würde sie Königin sein.
Die kleine Prozession
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