Der Wolfsthron: Roman
betrat den Innenhof und ging den Pfad entlang, der vom Schloss zum Kathedralen-Tempel führte. Han ließ eine Hand unter seinen Umhang gleiten und murmelte einen Zauberspruch. Plötzlich wölbte sich Licht über ihnen; es sah aus wie ein magischer Baum mit Rosen, aber Raisa vermutete, dass es irgendein raffinierter Trick war, um Pfeile von Attentätern oder magische Angriffe abzuwehren.
Als sie in Sichtweite kamen, jubelten die Bediensteten und winkten mit Taschentüchern von den Balkonen. »Alles Gute!«, riefen sie, »lang lebe Raisa ana ’Marianna!«
Tempelgeweihte standen beiderseits der großen Flügeltür der Kathedrale. Sie zogen sie weit auf, als Raisa und ihr Gefolge sich näherten.
Raisa blieb im Eingang stehen und warf einen Blick hinein. Die Kathedrale war voll, alle Plätze waren besetzt. Ein Rauschen und Rascheln ging durch die Reihen, als die Anwesenden sich erhoben, um die Erbprinzessin zu begrüßen.
Mit hoch erhobenem Haupt schritt Raisa den Mittelgang entlang; Han und Amon ließen sich etwas zurückfallen, damit alle Blicke sich nur auf sie richten konnten. Im vorderen Bereich des Tempels wartete Redner Jemson in jenem zeremoniellen Gewand, das die Redner seit Hanalea bei jeder Krönung trugen.
Nur gut, dass es für alle Größen passt, dachte Raisa – so wie meines.
Wieder wurde sie von den Geräuschen und der Farbenpracht an die Zeremonie zu ihrem Namenstag erinnert. Dieses Mal allerdings war der Grauwolf-Thron auf dem Podest leer, und statt der weißen Gardenien ihrer Mutter war er mit Eberesche und Rosen geschmückt – ein Symbol dafür, dass die Zeiten sich geändert hatten. Dennoch hatte Raisa das Gefühl, dass es immer noch der Thron ihrer Mutter war.
Ein Stück darunter, auf dem ebenen Fußboden, standen beiderseits des Thrones die weniger kunstvollen Stühle, auf denen die Repräsentanten der Spirit-Clans, des Magierrates und des Rates der Adeligen saßen. Ihre Großmutter Elena setzte sich auf den für den wichtigsten Vertreter der Clans reservierten Platz, ebenso wie Gavan Bayar und Lassiter Hakkam ihre Plätze einnahmen.
Alles um sie herum schien sich jetzt wie im Schneckentempo in die Länge zu ziehen, während Raisas Gedanken rasten und ihr Geist Bilder, Geräusche, Körpersprache, Gesichtsausdrücke und Reaktionen einsaugte.
Vor dem Podest blieb sie stehen und drehte sich um. Sie ließ ihren Blick über die Kathedrale schweifen; ihre Begleiter verteilten sich zu beiden Seiten. Wieder beschwor Han einen Baldachin aus glitzernder Magie herauf – Wölfe und Rosen und das lidlose Auge, das Symbol des Clans ihres Vaters.
Die Grauwölfe stellten sich entlang der Wand auf und nahmen Haltung an. Han und Amon begaben sich auf ihre Positionen rechts und links vom Podest, als eine Art Ehrenwache. Die Plätze von Mellony, Missy und Averill befanden sich in der ersten Reihe, und Averill legte Mellony einen Arm um die Schultern.
Gleich hinter ihnen saß Magret, sehr aufrecht, mit geröteter Nase, und betupfte sich ständig die Augen.
Mellony beugte sich vor und warf einen Blick über den Mittelgang zu Micah und Fiona, die ebenfalls in der ersten Reihe saßen und ihr übliches Schwarz und Weiß trugen und stur geradeaus blickten. Ihre Gesichter wirkten wie feines Porzellan – weiß und hart und irgendwie spröde.
Da sah Raisa aus dem Augenwinkel etwas Rotes aufblitzen. Es war Cat Tyburn, die in den Schatten eines Seitengangs stand; sie trug ihr Kleid vom Ball. Anscheinend gefiel es ihr. Cat stand mit leicht schräg geneigtem Kopf da und musterte die Menge.
Weiter hinten saßen – entsprechend ihrem Rang und dem Protokoll – Gäste von außerhalb des Königinnenreichs. Die Sitzordnung war erneut verändert worden, da Gerard Montaigne sein Bedauern hatte übermitteln und verkünden lassen, dass er sofort nach Hause zurückkehren würde. Raisa wünschte sich fast, dass er da wäre, unter ihren Blicken, wo sie ihn beobachten konnte. Sie bedauerte zwar nicht, was sie gesagt hatte, aber vielleicht war es nicht der richtige Zeitpunkt dafür gewesen.
Hinter dem Thron und beiderseits des Altars hatten sich Raisas Ahnen versammelt, die Grauwolf-Königinnen. Wie Nebelschwaden drängten sie sich näher zusammen und lösten sich wieder voneinander, und ihre strahlenden Augen glitzerten im Licht der Fackeln und der Kronleuchter.
Raisa warf einen Blick auf Han; sie fragte sich, ob er die Grauwolf-Königinnen auch sehen konnte. Aber sofern das der Fall war, ließ er sich zumindest nichts
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