Der Wolfstrank
vertreiben. Das ist wirklich ein Hammer.«
Lucy schaute ebenfalls hin. Sie lachte dabei leise. »Er ist nicht mehr am Fenster, Großmutter, aber er ist noch da, das weiß ich genau. Der läuft nicht weg.«
Marlene King hatte jedes Wort verstanden. Sie schaute in das Gesicht ihrer Enkelin und erlebte, wie sich auf ihrem Körper eine Gänsehaut bildete. Sie glaubte Lucy, die überhaupt nicht mehr müde war, sondern sie aus sehr hellwachen Augen anschaute. Lucy war ihre Enkelin, sie hatte das Kind immer geliebt, und sie hätte alles für es getan. Jetzt allerdings lagen die Dinge anders. Da war ihr Lucy so fremd geworden, aber sie wollte es ihr nicht zeigen. Verkrampft lächelnd schaute sie das Kind an.
»Bitte, wir wollen jetzt nicht weiter darüber sprechen. Es ist bald Mitternacht. Morgen ist auch noch ein Tag. Ich muss auch ins Bett. Es ist besser, wenn du jetzt schläfst.«
»Aber ich habe Durst.«
»Ich hole dir ein Glas Wasser.«
»Nein, bitte nicht. Ich möchte selbst gehen.«
»Also gut, dann gehen wir gemeinsam.« Marlene King war froh, aufstehen und sich etwas bewegen zu können. Das längere Sitzen hatte sie steif gemacht.
Sie schuf Platz für die Enkelin und ließ dabei das Fenster nicht aus den Augen.
Der Wolf zeigte sich nicht. Marlene King wünschte sich, dass es wirklich nur ein Albtraum gewesen war, aber dieser Wunsch würde wohl nicht in Erfüllung gehen. Es gab den Wolf, sie hatte sich nicht geirrt. So etwas bildete man sich nicht ein, und sie merkte wieder, dass sich auf ihren Handflächen Schweiß bildete. Der Stress war noch nicht vorbei. Er hatte sich nur verlagert.
Gemeinsam verließen Marlene und Lucy das Kinderzimmer. Nachdem ihr Mann gestorben war, bewohnte Marlene King das Haus allein. Es stand sogar recht einsam. Das war etwas für Naturfreunde, denn wenn sie an der Rückseite aus dem Fenster schaute, blickte sie auf den Wald. Es war ein sehr dichtes und auch dunkles Gebiet, das sich gut als Wolfsversteck eignete. Da konnte sich ein Tier wochenlang aufhalten, ohne entdeckt zu werden.
Das Haus war etwas verwinkelt. Die Räume verteilten sich auf zwei Etagen, obwohl der Bau selbst nicht hoch war. So führten jeweils nur kleine Treppen zu den einzelnen Etagen hoch. Um in die Küche zu gelangen, mussten die beiden die Treppe nach unten nehmen, die aus drei Stufen bestand.
Die Küche lag in der Nähe des Eingangstür. Hier gab es noch eine kleine Toilette und einen Raum, den sich Marlene King als Arbeitszimmer eingerichtet hatte. Es gab dort zwar keinen Schreibtisch, aber in diesem Zimmer nähte und bügelte sie und schaute dabei hin und wieder fern.
Lucy folgte ihr in die Küche. Sie hatte vor dem Verlassen ihres Zimmers noch einen bunten Bademantel übergestreift und mit beiden Händen ihre lockigen Haare zurückgeschoben. Obwohl sie Durst hatte, kümmerte sie sich nicht um den Kühlschrank. Das überließ sie ihrer Großmutter. Sie trat stattdessen an das Fenster und schaute hinaus.
»Suchst du den Wolf, Lucy?«
»Ja.«
Marlene mischte Mineralwasser mit Orangensaft. »Er wird nicht mehr kommen, Kind. Er hat sich zurückgezogen. In dieser Nacht haben wir Ruhe vor ihm.«
»Vielleicht will ich das gar nicht.«
»Bitte?«
»Ja. Ruhe haben.«
»Aber das ist doch Unsinn.«
»Nein, warum?«
»Der Wolf ist gefährlich.«
»Nicht für mich.«
»Doch, auch, mein Kind. Das ist kein Mensch. Das ist auch kein Hund, und demnach ist es auch kein Spielkamerad für dich. Wann wirst du das endlich begreifen?«
»Du irrst dich, Großmutter. Ich sehe das alles ganz anders. Tut mir Leid, wenn ich dir das sagen muss. Ich habe mich von deinem Denken befreit. Er ist ein Freund. Er hat mich schon oft besucht, und er will, dass ich zu ihm komme.«
Marlene stand in der Küchenmitte. Sie hielt das gefüllte Glas in der rechten Hand und hatte große Mühe, es festzuhalten, denn sie zitterte nach diesen Worten. Sie war bleich geworden.
»Wie kannst du so etwas nur sagen, Kind?«
Lucy nahm ihr das Glas aus der Hand. Sie trank in kleinen Schlucken. Erst als sie den ersten Durst gelöscht hatte, gab sie eine Antwort. »Weil ich es weiß. Ich habe dir doch gesagt, dass er nicht nur ein Wolf ist, hinter ihm steckt noch jemand.«
Marlene King war perplex. So hatte sie ihre Enkelin noch nie gehört. »Was denn? Was soll dahinter stecken?«, flüsterte sie. »Kannst du mir das sagen?«
»Ja, gem. Ein Mensch. Er ist nicht nur Wolf. Er ist Mensch und Wolf zugleich.«
Marlene schwieg. Sie war einfach
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