Der Wolfstrank
Weg dem Wald entgegen. Für Marlene, die zuschauen musste, war es schlimm. Vor ihren Augen wurde die Enkelin entführt, wobei das nicht mal so zutraf. Sie wurde gar nicht entführt, denn sie ging freiwillig mit. Und sie drehte sich nicht einmal mehr um. Ihr Zuhause war in Vergessenheit geraten. Es lag hinter ihr. Es war vorbei. Zwölf Jahre waren vergessen.
Marlene King war geschockt und entsetzt. Sie merkte nicht, dass Tränen aus ihren Augen rannen und an den Wangen entlang herab liefen.
Die beiden waren längst aus ihrer Sichtweite entschwunden, als sie noch immer auf dem Fleck stand, zwar nach vom schaute, aber trotzdem ins Leere blickte.
Irgendwann bewegte sie sich. Sie ging auf die Tür zu und schloss sie. Wie in Trance drehte sie sich um und ging wieder tiefer in das kleine Haus hinein. Noch immer rannen Tränen aus ihren Augen. Sie hatte das Gefühl, dass etwas Fremdes alles beherrschte.
Wie sie das kleine Schlafzimmer betreten hatte, wusste sie nicht. Sie hatte die Schwelle überschritten, sah das Bett und warf sich nach vorn.
Bäuchlings fiel sie auf das Kissen und vergrub ihr Gesicht darin. Die Welt war für sie eine andere geworden. Sie wollte nichts mehr sehen und hören.
Die Welt um sie herum versank in einen Strudel, dem sie nicht entkommen konnte...
***
Das war nicht zum Lachen sondern zum Heulen!
Und das im wahrsten Sinne des Wortes, denn das Heulen übertönte sogar das Rauschen des Flusses, und wir hörten es, als wir aus dem Rover stiegen, dessen Vorderräder beinahe im Wasser standen, denn ich hatte ziemlich spät gebremst und war auf dem feuchten Ufersand noch ein Stück gerutscht.
Suko hatte den Wagen vor mir verlassen und schaute sich kurz um. Es war immer besser, sich die Umgebung einzuprägen, und die sah natürlich in der Nacht dunkel aus.
An der linken Seite wogte der Teppich aus Wellen. Licht schimmerte manchmal als Reflex auf den Wellenkämmen. Lichter rissen an den Ufern die Nacht auf. Die Brücken grüßten wie stählerne Kolosse aus Urweltzeiten, die sich mit Laternen geschmückt hatten, als wollten sie ein Fest feiern. Über sie hinweg rollten die Fahrzeuge, deren Scheinwerfer ebenfalls Licht abgaben und das Dunkel zerrissen. Die Tower Bridge wirkte wie zum Greifen nahe vor uns, obwohl sie weit entfernt war. Am Himmel ballte sich die Dunkelheit zu einem trüben Grau zusammen, und wir hatten Glück, dass es nicht regnete.
Hinter uns lief eine Straße entlang. Von ihr waren wir abgebogen und bis zum Ufer gefahren, um näher am Zielort zu sein. Es war kein normaler Weg, auf dem wir standen. Hier konnte sich der Fluss bei Hochwasser ausbreiten. Entsprechend sah auch die Umgebung aus. Sand, Erde, Steine. Buckel und kleine Hügel. Dazwischen karge Gräser und angeschwemmtes Holz.
Ein paar Meter flussabwärts wurde die Böschung durch eine Mauer abgestützt, und genau dort lag unser Ziel. Man hatte es uns beschrieben, und die beiden Kollegen, die uns alarmiert hatten, zeigten sich jetzt. Woher sie gekommen waren, wussten wir nicht. Jedenfalls waren sie da. In ihren dunklen Uniformen hoben sie sich kaum von der Umgebung ab, aber beim Näherkommen sahen wir, dass ihre Gesichter recht bleich waren.
Sie stellten sich uns vor. Einer hieß Ferguson, der andere hörte auf den Namen Smith. Er war der ältere und übernahm auch das Reden.
»Gut, dass Sie so schnell gekommen sind.«
»Hat sich etwas verändert?«, fragte Suko.
»Nein, zum Glück nicht.«
»Erzählen Sie!«, forderte ich Smith auf.
Der Kollege fühlte sich unbehaglich. Er schaute sich ein paar Mal um, als befürchtete er, beobachtet zu werden. Dann fragte er: »Haben Sie das Heulen vorhin gehört?«
»Haben wir.«
»Er ist noch da.«
»Weiter.«
»Wir haben das auch gehört«, sagte Smith. »Seit einiger Zeit laufen wir hier Streife. Es hat schon öfter Ärger gegeben, denn hier am Ufer wird oft gedealt. Nun ja, und dann hörten wir das Geräusch. Es... es... kam uns nicht geheuer vor. Wir haben es auch gefunden«, er holte scharf Atem. »Ach, verdammt, das ist ein Wahnsinn. Er ist gefangen. Er hat sich gefangen. In einer dieser Fuchsfallen oder so ähnlich. Jedenfalls steckt er fest, und bisher hat er sich noch nicht befreien können. Ich weiß nicht, wer die Falle aufgebaut hat. Wahrscheinlich waren es die Typen, die hier gedealt haben, ist auch egal. Jedenfalls kann er sich nicht befreien, denn das verdammte Ding ist noch durch eine Kette mit der Betonwand verbunden.«
»Der Gefangene befindet sich nicht im
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