Der Wolkenatlas (German Edition)
erzählt, in welcher Verfassung sie mich vorgefunden hatte? Hatte Lucille meinen ½gepackten Koffer erwähnt? Wartete, bis ich sicher wußte, daß alle Erleichterung aus meiner Stimme gewichen war, und erwiderte großmütig, es sei nichts Falsches daran, seine Gedanken offen auszusprechen.
«Ich bin Ihrem Vorschlag viel zu ablehnend begegnet, Frobisher. Es wird nicht leicht sein, Musik aus meinem Dez zu fördern, aber unsere Zusammenarbeit ist ebenso aussichtsreich wie jede andere. Ihre musikalischen Fähigkeiten und Ihre Persönlichkeit erscheinen mir für diese Aufgabe mehr als geeignet. Meine Frau sagte, Sie versuchen sich selbst im Komponieren? Offensichtlich ist die Musik Sauerstoff für uns beide. Mit dem rechten Willen werden wir uns durchwursteln, bis wir die richtige Methode gefunden haben.» In diesem Moment klopfte es, Mme. Crommelynck spähte zur Tür herein, schätzte, wie so manche Frau, im Nu die Wetterlage ein und fragte, ob wir zur Feier des Tages anstoßen wollten. Ayrs wandte sich an mich. «Das hängt ganz vom jungen Frobisher ab. Was meinen Sie? Bleiben Sie für einige Wochen mit Aussicht auf einige Monate, wenn es gut läuft? Vielleicht sogar länger, wer weiß? Sie müssen aber ein kleines Gehalt annehmen.»
Tarnte meine Erleichterung als Freude, erklärte ihm, es sei mir eine Ehre, und schlug das angebotene Gehalt nicht sofort aus.
«Dann sage Mrs. Willems, sie möge uns einen 1908er Pinot Noir holen, Jocasta!» Wir toasteten auf Bacchus und die Musen und tranken den Wein, der so gehaltvoll war wie Einhornblut. Ayrs’ Weinkeller, über sechshundert Flaschen, gehört zu den besten Belgiens und verdient einen kurzen Exkurs. Er überstand den Krieg ohne Plünderung durch die teutonischen Offiziere, die Zedelghem als Kommandozentrale benutzten, und zwar weil Hendricks Vater vor dem Eingang eine Zwischenmauer einzog, bevor die Familie nach Göteborg floh. Auch die Bibliothek und zahlreiche andere sperrige Kostbarkeiten überdauerten dort unten (den Gewölben eines einstigen Mönchsklosters) in Kisten verpackt den Krieg. Die Preußen plünderten vor dem Waffenstillstand zwar das ganze Schloß, den Trick mit der Mauer aber durchschauten sie nicht.
Allmählich entwickelt sich ein Arbeitsalltag. Ayrs und ich treffen uns morgens um neun im Musikzimmer, sofern seine zahlreichen Leiden und die Schmerzen es zulassen. Ich sitze am Klavier, Ayrs auf dem Diwan, er raucht seine abscheulichen türkischen Zigaretten, und wir entscheiden uns für eine von drei Methoden. «Revision» – er bittet mich, noch einmal die Arbeit des vergangenen Morgens durchzugehen. Je nach Instrument summe, singe oder spiele ich, und Ayrs ändert die Partitur. Bei der «Rekonstruktion» sehe ich alte Partituren, Notizhefte und Kompositionen durch, die teils vor meiner Geburt entstanden sind, um eine Passage oder Kadenz zu finden, die Ayrs dunkel im Kopf herumschwirrt und gerettet werden soll. Aufwendige Detektivarbeit. Das anstrengendste ist «Komposition». Ich sitze am Klavier und versuche mit einem Schwall von Noten mitzuhalten wie: «Sechzehntel, b–g; ganze Note, as – vier Zählzeiten halten, nein, sechs – Viertel! F – nein, nein, nein, nein, nicht fis, f – und … b! Ta-tatta-tatta-taaa!» (Wenigstens benennt il maestro jetzt die Töne.) Wenn er romantisch gestimmt ist, heißt es dagegen: «So, Frobisher, die Klarinette ist die Konkubine, die Bratschen sind die Eiben auf dem Friedhof, das Klavichord ist der Mond, und jetzt lassen Sie den Ostwind den a-Moll-Akkord blasen, ab Takt 16.»
Wie bei einem guter Butler (wobei ich Dir versichern kann, daß ich mehr als gut bin) besteht meine Arbeit zu 90 Prozent aus Voraussicht. Manchmal verlangt Ayrs ein künstlerisches Urteil, etwa: «Glauben Sie, dieser Akkord paßt hier, Frobisher?» oder «Fügt sich diese Passage in das Ganze ein?» Verneine ich, fragt er mich, was ich statt dessen vorschlagen würde, und ein-, zweimal hat er meine Änderungen sogar verwendet. Ziemlich ernüchternd. In der Zukunft werden Menschen diese Musik studieren.
Gegen ein Uhr ist Ayrs erschöpft. Hendrick trägt ihn hinunter ins Eßzimmer, wo Mrs. Crommelynck mit uns zu Mittag ißt und auch die gefürchtete E., wenn sie zum Wochenende oder an einem schulfreien Nachmittag nach Hause kommt. In der Mittagshitze hält Ayrs sein Nickerchen. Ich durchkämme derweil die Bibliothek nach Schätzen, komponiere im Musikzimmer, lese im Garten Partituren (Madonnenlilien, Kaiserkronen,
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