Der Wolkenatlas (German Edition)
Fackellilien, Stockrosen, alle in leuchtender Blüte), erkunde mit dem Fahrrad die Gegend um Neerbeke oder streife über die Felder. Bin dick mit den Dorfhunden befreundet. Sie laufen mir nach wie die Bälger dem Rattenfänger. Die Einheimischen erwidern mein «Goede morgen» und «Goede middag» – ich bin inzwischen als der Dauergast vom «kasteel» bekannt.
Nach dem Abendessen hören wir drei oft Radio, sofern etwas Gescheites läuft, sonst legen wir Grammophonplatten auf (der Apparat ist ein Tischmodell von His Master’s Voice aus Eichenholz), meistens Ayrs’ große Kompositionen, dirigiert von Sir Thomas Beecham. Wenn wir Besuch haben, gibt es Konversation oder ein wenig Kammermusik. An anderen Abenden läßt sich Ayrs von mir Lyrik vorlesen, vor allem seinen geliebten Keats. Er flüstert die Verse mit, während ich rezitiere, als stützte seine Stimme sich auf meine. Beim Frühstück muß ich ihm aus der Times vorlesen. Obwohl er alt, krank und blind ist, könnte er sich durchaus in einem Debattierclub am College behaupten, allerdings fällt mir auf, daß er den Systemen, über die er sich lustig macht, selten etwas entgegensetzt. «Freigebigkeit? Ängstlichkeit der Reichen!»; «Sozialismus? Der jüngere Bruder eines altersschwachen Despotismus, dessen Erbe er antreten will»; «Konservative? Willkürliche Lügner, deren größter Betrug die Doktrin des freien Willens ist.» Welchen Staat wünsche er sich denn? «Gar keinen! Je geordneter der Staat, desto dumpfer seine Humanität.»
So jähzornig Ayrs auch sein mag, er zählt zu den wenigen Männern in Europa, von denen ich meine schöpferische Kraft beseelt sehen möchte. Aus musikwissenschaftlicher Sicht ist er janusköpfig. Ein Ayrs blickt zurück auf das Sterbebett der Romantik, der andere blickt in die Zukunft. Das ist der Ayrs, dessen Blick ich folge. Dabei zuzusehen, wie er die Kontrapunkttechnik einsetzt und Klangfarben mischt, verfeinert meine eigene Sprache auf höchst erregende Weise. Schon jetzt hat mein kurzer Aufenthalt auf Zedelghem mich mehr gelehrt als die drei Jahre am Hof von Mackerass dem Rabenaas und seiner fröhlichen Onanistenkapelle.
Regelmäßig kommen Freunde von Ayrs und Mrs. Crommelynck zu Besuch. In einer normalen Woche erwarten wir an zwei, drei Abenden Gäste. Solisten auf der Rückreise von Brüssel, Amsterdam, Berlin oder noch weiter; alte Bekannte aus Ayrs’ wilden Jugendtagen in Florida und Paris und der gute Morty Dhondt nebst Gattin. Dhondt besitzt je eine Diamantenschleiferei in Brügge und Antwerpen, spricht eine unbekannte, aber große Anzahl Fremdsprachen, ersinnt komplizierte, mehrsprachige Wortspiele, die langatmiger Erläuterungen bedürfen, fördert diverse Festivals und wirft sich mit Ayrs metaphysische Bälle zu. Mrs. Dhondt ist wie Mrs. Crommelynck, nur in zehnfacher Steigerung – eine wahrhaft schreckliche Person, die der Belgischen Reitervereinigung vorsteht, selbst den dhondtschen Bugatti fährt und ihren Pekinesen, eine Puderquaste namens Wei-Wei, verhätschelt. Du wirst ihr in späteren Briefen zweifellos noch begegnen.
Verwandte sind dünn gesät: Ayrs war ein Einzelkind, und die einst so einflußreichen Crommelyncks bewiesen während des gesamten Krieges ein meisterhaftes Talent, in entscheidenden Momenten auf der falschen Seite zu stehen. Die Familienmitglieder, die ihr Leben nicht im Feld gelassen hatten, waren zu dem Zeitpunkt, als Ayrs und seine Frau aus Skandinavien zurückkehrten, größtenteils von Armut oder Krankheit dahingerafft worden. Andere ins Ausland getürmt und dort gestorben. Manchmal statten uns Mrs. Crommelyncks frühere Gouvernante und ein paar gebrechliche Tanten einen Besuch ab, aber sie stehen still in der Ecke wie alte Hutständer.
Vergangene Woche schneite an einem 2. Migränetag der Dirigent Tadeusz Augustowski herein, ein großer Fürsprecher Ayrs’ in seiner Geburtsstadt Krakau. Mrs. Crommelynck war außer Haus, und Mrs. Willems kam völlig aufgelöst zu mir und bat mich, den illustren Gast zu unterhalten. Konnte sie nicht enttäuschen. Augustowskis Französisch ist ebenso gut wie meines, und wir verbrachten den Nachmittag damit, uns beim Angeln über die Zwölftonmusiker zu streiten. Er hält sie allesamt für Scharlatane, ich nicht. Er erzählte mir abenteuerliche Geschichten aus dem Orchesterleben sowie einen unbeschreiblich schweinischen Witz, der mit Handbewegungen zu tun hat, du mußt also warten, bis wir uns wiedersehen. Ich fing eine
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