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Der Wolkenatlas (German Edition)

Der Wolkenatlas (German Edition)

Titel: Der Wolkenatlas (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Mitchell
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beschuldigt, sich unerlaubt auf dem Besitz ihrer Mutter aufzuhalten. Hellwach rappelte ich mich auf, entschuldigte mich vielmals und erklärte ihr, ich hätte im Schlaf gesprochen.
    Dachte überhaupt nicht mehr an den See. Fiel hinein wie ein erbärmlicher Dummkopf! Klitschnaß! Zum Glück war das Wasser nur hüfttief, und Gott hatte Ayrs’ kostbaren Nietzsche vor einem gemeinsamen Bad bewahrt. Als Eva ihr Lachen wieder im Zaum hielt, sagte ich, wie schön es sei, daß sie nicht nur schmollen könne. Ich hätte Entengrütze im Haar, erwiderte sie auf englisch. Aus Verlegenheit lobte ich sie herablassend für ihre Sprachkenntnisse. Sie schlug zurück: «Ein Engländer ist leicht zu beeindrucken.» Ging weiter. Eine bissige Replik fiel mir erst später ein, und so ging der Satz an das Mädchen.
    Und jetzt paß gut auf, wenn ich über Bücher und den schnöden Mammon spreche. Als ich in meinem Zimmer einen Alkoven mit lauter Büchern durchstöberte, stieß ich auf einen eigenartig verstümmelten Band, und ich möchte, daß Du eine vollständige Ausgabe für mich ausfindig machst. Das Buch beginnt auf Seite 99, die Buchdeckel fehlen, der Einband hat sich gelöst. Soweit ich feststellen kann, handelt es sich um ein gedrucktes Tagebuch, das ein Notar aus San Francisco namens Adam Ewing während einer Seereise von Sydney nach Kalifornien schrieb. Der Goldrausch wird erwähnt, ich vermute also, wir sind im Jahr 1849 oder 1850. Das Tagebuch wurde offenbar posthum von Ewings Sohn (?) veröffentlicht. Ewing erinnert mich an den naiven Kapitän Delano aus Melvilles Benito Cereno , blind gegen alle Verschwörer – er erkennt nicht, daß sein treuer Arzt Henry Goose (sic) ein Blutsauger ist, der seine Hypochondrie nährt und ihn schleichend vergiftet, um an sein Geld zu kommen. Irgend etwas ist daran nicht koscher – für authentische Aufzeichnungen wirkt es zu sorgfältig gebaut, und auch die Sprache klingt nicht wirklich echt –, aber wer sollte sich die Mühe machen, so ein Tagebuch zu fälschen, und warum?
    Zu meinem großen Ärger bricht der Text ungefähr vierzig Seiten später, wo der Einband durchgewetzt ist, mitten im Satz ab. Habe die Bibliothek von oben bis unten nach dem Rest des verdammten Dings durchkämmt. Vergeblich. Wohl kaum in unserem Interesse, Ayrs oder Mrs.   Crommelynck auf ihren heimlichen bibliographischen Schatz aufmerksam zu machen, bin also aufgeschmissen. Würdest Du Otto Jansch in der Caithness Street fragen, ob er etwas über diesen Adam Ewing weiß? Ein ½gelesenes Buch ist eine ½beendete Liebesbeziehung.
    Anbei findest Du eine Aufstellung der ältesten Ausgaben, die ich in der Bibliothek von Zedelghem gefunden habe. Wie Du siehst, sind einige aus dem frühesten 17. Jh., schick mir also so schnell wie möglich Janschs Höchstgebote, und bring den Geizhals auf Trab, indem Du fallenläßt, daß auch die Pariser Händler Interesse zeigen.
    Dein
    R. F.
    ◆ ◆ ◆
    Château Zedelghem
    28-VII-1931
     
    Sixsmith,
    geringfügiger Anlaß zum Feiern. Vor zwei Tagen beendeten Ayrs und ich unsere erste Zusammenarbeit, eine kurze Tondichtung, Der Todtenvogel . Als ich das Stück ausgrub, war es eine höchst fade Bearbeitung einer alten teutonischen Hymne, die Ayrs seiner schwindenden Sehkraft wegen auf Eis gelegt hatte. Die neue Version ist ein faszinierendes Tier. Klangliche Reminiszenzen an Wagners Ring , dann löst sich das Thema in einen strawinskyesken Albtraum auf, der von sibeliusschen Geistern in Schach gehalten wird. Schaurig, köstlich, wünschte, Du könntest es hören. Endet mit einem Querflötensolo – nicht das heitere Flattern eines Falters, sondern der Totenvogel aus dem Titel, der den Erst- und den Letztgeborenen verflucht.
    Gestern kam Augustowski wieder vorbei, auf der Rückreise von Paris. Er las die Partitur und überschüttete sie mit Lob. Zu Recht! Für mich ist es die vollendetste Tondichtung, die seit dem Krieg geschrieben wurde, und ich sage dir, Sixsmith, mehr als nur ein paar der besten Einfälle stammen von mir. Ein Assistent muß sich wohl damit abfinden, auf die Nennung seines schöpferischen Anteils zu verzichten, doch den Mund zu halten fällt wie immer nicht leicht. Aber das Beste kommt noch – Augustowski will das Werk heute in drei Wochen auf dem Festival in Krakau unter eigener Leitung uraufführen.
    Gestern morgen bei Tagesanbruch aufgestanden und den ganzen Tag damit verbracht, eine saubere Abschrift zu erstellen. Auf einmal erschien mir das Stück gar nicht

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