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Der Wolkenatlas (German Edition)

Der Wolkenatlas (German Edition)

Titel: Der Wolkenatlas (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Mitchell
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«Wollen Sie etwa sagen, Sie haben meine Melodie nicht notiert?»
    Versuchte mir bewußtzumachen, daß sein Verhalten jeglicher Vernunft entbehrte. Ich bat ihn, die Melodie zu wiederholen, aber viel langsamer, und die Töne einzeln zu benennen. Es folgte eine bedenklich lange Pause – kam mir vor wie drei Stunden –, in der Ayrs überlegte, ob er einen Wutanfall bekommen sollte. Schließlich stieß er einen gepeinigten Seufzer aus. «Vier achtel , Wechsel zu Acht achtel nach dem zwölften Takt, falls Sie so weit zählen können.» Pause. Dachte an meine finanziellen Nöte und biß mir auf die Zunge. «Fangen wir noch einmal ganz von vorne an.» Gönnerhafte Pause. «Können wir? Langsam  … Ta! Welcher Ton ist das?» Durchlebte eine entsetzliche ½ Stunde, in der ich nacheinander jeden einzelnen Ton erraten mußte. Ayrs bestätigte oder verwarf meine Vermutungen mit müdem Nicken oder Kopfschütteln. Als Mme. C. eine Vase mit Blumen hereinbrachte, machte ich ein hilfesuchendes Gesicht, doch   V. A. erklärte die heutige Sitzung von sich aus für beendet. Im Hinauslaufen hörte ich, wie Ayrs (zu meinem Besten?) verkündete: «Es ist hoffnungslos, Jocasta, der Junge kann nicht einmal eine einfache Melodie aufschreiben. Ich könnte mich ebensogut der Avantgarde anschließen und Pfeile auf ein Blatt mit Noten werfen.»
    Auf dem Flur beklagt sich Mrs.   Willems – die Haushälterin – bei einem bisher unsichtbar gebliebenen Handlanger über das feuchte, stürmische Wetter und ihre nasse Wäsche. Sie ist besser dran als ich. Ich habe andere Menschen aus Wollust oder Geldnot manipuliert oder weil ich einen Gönner brauchte, aber niemals, um ein Dach über dem Kopf zu haben. Dieses modernde Schloß stinkt nach Schimmel. Hätte nie hierherkommen dürfen.
    Dein
    R. F.
     
    PS: Finanzielle «Verlegenheit», welch passender Ausdruck. Kein Wunder, daß die Armen alle Sozialisten sind. Ich muß Dich leider um ein Darlehen bitten. Die Etikette auf Zedelghem ist so lasch, wie ich es noch nie erlebt habe (zum Glück! Der Butler meines Vaters verfügt gegenwärtig über eine besser ausgestattete Garderobe als ich), aber ein gewisses Niveau will doch gehalten werden. Habe nicht einmal Trinkgeld für die Dienstboten. Hätte ich noch wohlhabende Freunde, würde ich diese bitten, aber die Wahrheit ist, ich habe keine mehr. Keine Ahnung, wie man Geld telegraphiert, als Paket oder wie auch immer verschickt, aber Du bist schließlich der Wissenschaftler, Dir wird schon etwas einfallen. Wenn Ayrs mich zum Gehen auffordert, bin ich erledigt. Die Nachricht, daß Robert Frobisher bei seinen einstigen Gastgebern um Geld betteln mußte, nachdem sie ihn wegen mangelnder Arbeitsleistung hinauswarfen, würde bis nach Cambridge vordringen. Die Schande brächte mich ganz sicher um, Sixsmith. Schick mir, um Gottes willen, soviel Du auftreiben kannst, sofort.
    ◆ ◆ ◆
    Château Zedelghem
    14-VII-1931
     
    Sixsmith,
    gepriesen sei der heilige Rufus, Schutzpatron der bedürftigen Komponisten, gepriesen über alles, amen . Deine Postanweisung kam heute morgen wohlbehalten an – schilderte Dich meinen Gastgebern als senilen Onkel, der meinen Geburtstag vergessen hätte. Mrs.   Crommelynck sagte, eine Bank in Brügge werde die Summe auszahlen. Werde Dir zu Ehren eine Motette schreiben und das Geld so schnell ich kann zurückzahlen. Schneller vielleicht, als Du glaubst. Der tiefe Frost auf meinen Aussichten taut ab. Nach dem 1. demütigenden Versuch einer Zusammenarbeit mit Ayrs schlich ich elend und todunglücklich in mein Zimmer. An jenem Nachmittag schrieb ich Dir mein wehleidiges Gejammer – übrigens, verbrenne den Brief, falls Du es noch nicht getan hast –; war voller Furcht vor der Zukunft. Trotzte dem Regen in Gummistiefeln und Cape und ging, begleitet von der Sorge, wo ich wohl in einem Monat sein würde, zum Postamt im Dorf. Kurz nach meiner Rückkehr schlug Mrs.   Willems den Gong zum Abendessen, doch als ich den Speisesaal betrat, fand ich Ayrs allein vor. «Sind Sie das, Frobisher?» fragte er in dem barschen Ton, wie er bei älteren Männern, die sich in Feingefühl versuchen, üblich ist. «Ah, Frobisher, gut, daß wir uns einen Moment allein unterhalten können. Hören Sie, ich habe mich heute morgen scheußlich benommen. Durch meine Krankheit bin ich bisweilen … direkter, als es angebracht ist. Ich entschuldige mich. Na, was meinen Sie, geben Sie dem mürrischen Ungetüm morgen noch eine Chance?»
    Hatte seine Frau ihm

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