Der Wolkenatlas (German Edition)
plötzlich irgendwelche Wertgegenstände verschwänden. Sie hätten schon Schlimmes mit diebischem Personal erlebt, erwähnte sie beiläufig, und ebenso mit ein, zwei verarmten Logiergästen, ob es nicht unfaßbar sei, daß Menschen sich so schändlich benehmen könnten. Versicherte ihr, meine Eltern hätten gleich Schlimmes erlebt, und streckte die Fühler nach meinem Probespiel aus. «Er nannte Ihren Scarlatti ‹rettbar›. Vyvyan verachtet jegliche Form von Lob, für sich selbst wie auch für andere. Er sagt: ‹Wenn man gelobt wird, geht man nicht mehr seinen eigenen Weg.›» Fragte sie ganz direkt, ob sie glaube, daß er mich einstellen werde. «Das hoffe ich, Robert.» (Mit anderen Worten, abwarten.) «Sie müssen eines verstehen, er hatte sich schon damit abgefunden, nie mehr einen Ton zu komponieren. Das war sehr schmerzlich für ihn. Hoffnungen in ihm zu wecken, er könnte vielleicht doch wieder komponieren – nun, das ist ein Risiko, das man nicht leichtfertig eingehen darf.» Thema beendet. Ich erwähnte meine jüngste Begegnung mit Eva, und Mme. C. erklärte: «Meine Tochter war ungehörig.»
«Reserviert», lautete meine vorbildliche Antwort.
Meine Gastgeberin schenkte mir Wein nach. «Eva hat ein unerfreuliches Wesen. Mein Mann zeigt sehr wenig Interesse, sie zu einer jungen Dame zu erziehen. Er wollte niemals Kinder. Heißt es nicht, Väter und Töchter würden einander abgöttisch lieben? Nicht bei uns. Evas Lehrer sagen, sie sei fleißig, aber verschlossen, und sie hat nie den Versuch unternommen, sich musikalisch zu entfalten. Ich habe oft das Gefühl, als kenne ich sie gar nicht.» Ich füllte Mme. C.s Glas, und ihre Stimmung schien sich zu heben. «Jetzt müssen Sie sich meine Klagen anhören. Ihre Schwestern sind sicher zarte englische Schönheiten mit tadellosen Manieren, nicht wahr, Monsieur?» Hege so meine Zweifel, ob ihr Interesse an den Memsahibs Frobisher aufrechter Natur war, aber die Frau sieht mir gerne beim Reden zu, und so unterhielt ich meine Gastgeberin mit geistreichen Parodien auf meine Sippschaft. Ließ uns alle so unbeschwert erscheinen, daß ich beinahe Heimweh bekam.
Heute morgen, ein Montag, ließ Eva sich herab, am Frühstück teilzunehmen – Bradenham-Schinken, Eier, Brot etc. –, aber das Mädchen traktierte seine Mutter mit belanglosen Nörgeleien und erstickte meine Einwürfe mit einem ausdruckslosen «oui» oder einem scharfen «non» . Ayrs fühlte sich besser und aß mit uns. Anschließend fuhr Hendrick die Tochter zur neuen Schulwoche nach Brügge – Eva logiert dort bei einer Familie, deren Töchter dieselbe Schule besuchen, die Van Eels oder so ähnlich. Das ganze Schloß atmete erleichtert auf, als der Cowley hinter der Pappelallee (bekannt als der Mönchsweg) außer Sichtweite verschwand. Eva vergiftet dermaßen die Atmosphäre. Um neun zogen Ayrs und ich uns ins Musikzimmer zurück. «Mir geistert eine kleine Melodie für Bratsche durch den Kopf, Frobisher. Wollen mal sehen, ob es Ihnen gelingt, sie aufzuschreiben.» War hoch erfreut, das zu hören; hatte damit gerechnet, ganz unten anzufangen – skizzenhafte Partituren in beste Reinschrift übertragen und so weiter. Wenn ich mich an meinem ersten Tag als V. A.s denkender Füllfederhalter erwies, war mir eine Anstellung nahezu sicher. Setzte mich mit gespitzten Bleistiften und frischem Papier an seinen Schreibtisch und wartete, daß er mir Note für Note diktierte. Plötzlich brüllte der Mann: «Ta, ta! Ta-ta-ta tattatattatatta, ta! Haben Sie das? Ta! Tatta-ta! Leise Passage – ta-ta-ta-tttt-TA! TATATA!!!» Der alte Trottel hielt das offenbar für amüsant – sein unverständliches Geschrei ließ sich ebensowenig notieren wie das Iahen einer Eselherde –, doch nach einer halben Minute dämmerte mir, daß es sich keineswegs um einen Scherz handelte. Versuchte, ihn zu unterbrechen, aber der Mann war so in seine Musik vertieft, daß er mich gar nicht hörte. Litt Höllenqualen, während Ayrs schrie und schrie und schrie … Mein Plan war aussichtslos. Was war am Victoria-Bahnhof nur in mich gefahren? Niedergeschlagen ließ ich ihn fortfahren, in der leisen Hoffnung, ich könnte die Melodie womöglich leichter aufschreiben, wenn er sie erst vollständig im Kopf hatte. «So, fertig!» erklärte er. «Haben Sie alles? Dann summen Sie vor, Frobisher, damit wir sehen, wie es klingt.»
Fragte, in welcher Tonart wir seien. «B-Moll natürlich !» Taktbezeichnung? Ayrs kniff sich in die Nase.
Weitere Kostenlose Bücher