Der Wolkenatlas (German Edition)
Er nähert sich ihr auf eine Weise, die Frauen verstehen. «Komm, Lu, wir dröhnen uns zu nach der Party. Nur wir beide, bei mir, meine ich. Kriegst auch ’n super exklusives Exklusivinterview. Vielleicht schreibe ich sogar ’nen Song für dich und pack ihn auf meine nächste LP.»
«Ich verzichte.»
Der drittklassige Rockmusiker kneift die Augen zusammen. «Hast wohl deine Tage, was? Wie wär’s mit nächster Woche? Ich dachte, ihr Medienmiezen nehmt alle die Pille.»
«Kaufst du deine Anmachsprüche auch bei Bix?»
Er kichert. «He, hat Bix etwa geplaudert?»
«Nur damit keine Zweifel aufkommen, Richard, ich würde lieber von diesem Balkon hier springen, als mit dir zu schlafen. Und zwar jeden Tag.»
«Booah!» Seine Hand zuckt zurück, als hätte ihn etwas gestochen. «Zickig! Scheiße, Mann, für wen hältst du dich, Joni Mitchell? Du bist ’ne bescheuerte Klatschkolumnistin bei ’nem Käseblatt, das kein Schwein liest!»
3
Als Luisa zum Fahrstuhl kommt, schließen sich eben die Türen, doch ein unsichtbarer Passagier hält seinen Stock dazwischen. «Vielen Dank», sagt Luisa zu dem alten Mann. «Schön, dass es noch echte Kavaliere gibt.»
Er antwortet mit einem ernsten Nicken.
Meine Güte , denkt Luisa Rey, der sieht ja aus, als hätte er nur noch eine Woche zu leben.
Luisa drückt auf «Erdgeschoss». Der Fahrstuhl setzt sich müde in Bewegung. Eine Nadel zählt gemächlich die Stockwerke ab. Der Motor heult, die Seile quietschen, doch zwischen dem neunten und dem achten Stock ertönt plötzlich ein maschinengewehrartiges Ra-ta-ta-ta-tat , das in einem langen Zischen endet. Luisa und Sixsmith fallen zu Boden. Das Licht geht flackernd an und aus, bis sich die spärliche Notbeleuchtung einschaltet.
«Ist Ihnen was passiert? Können Sie aufstehen?»
Der alte Mann ist vom Sturz noch leicht benommen. «Nichts gebrochen, glaube ich, aber ich bleibe lieber sitzen, danke.» Sein vornehmer englischer Akzent erinnert Luisa an den Tiger aus dem Dschungelbuch . «Die Fahrt könnte jeden Augenblick weitergehen.»
«Mist», murmelt Luisa. «Stromausfall. Das perfekte Ende eines perfekten Tages.» Sie drückt auf den Alarmknopf. Nichts. Sie drückt auf den Knopf der Sprechanlage und brüllt: «Hey! Ist da wer?» Rauschen und Zischen. «Das ist ein Notfall! Hört uns jemand?»
Luisa und der alte Mann werfen sich von der Seite Blicke zu und horchen. Keine Antwort. Nur verschwommene Unterwassergeräusche.
Luisa mustert die Decke. «Irgendwo muss eine Einstiegsluke sein …» Nein. Sie zieht den Teppichboden hoch – ein Stahlboden. «So was gibt’s wohl nur im Film.»
«Sind Sie immer noch froh», fragt der alte Mann, «dass es noch echte Kavaliere gibt?»
Luisa ringt sich ein Lächeln ab. «Kann sein, dass wir eine Weiledurchhalten müssen. Der Stromausfall letzten Monat hat siebenStunden gedauert.» Na ja, wenigstens sitze ich nicht mit einem Psychopathen fest, oder einem Klaustrophobiker oder Richard Ganja.
4
Eine Stunde später sitzt Rufus Sixsmith in einer Ecke und tupft sich die Stirn mit seinem Taschentuch ab. «Ich habe den Illustrated Planet 1967 wegen der Vietnam-Berichte Ihres Vaters abonniert. So, wie zigtausend andere Menschen auch. Lester Rey war einer von höchstens vier, fünf Journalisten, die den Krieg aus asiatischer Sicht begriffen, deshalb lausche ich gebannt, wie aus einem Polizisten einer der besten Korrespondenten seiner Generation wurde.»
«Sie haben es so gewollt.» Mit jedem Erzählen wird die Geschichte weiter ausgeschmückt. «Dad ging ein paar Wochen vor Pearl Harbor zur BYPD, deshalb war er den Krieg über hier und nicht im Pazifik wie sein Bruder Howie, der auf den Salomonen beim Beachvolleyball-Spielen auf eine japanische Landmine trat. Dad erwies sich ziemlich schnell als Kandidat für das 10. Revier, und da landete er auch. So ein Revier gibt es in jeder Stadt des Landes – eine Art Pferch, in den alle ehrlichen Cops versetzt werden, die sich weder schmieren lassen noch auf einem Auge blind sind. Am Abend des Sieges über Japan wurde in ganz Buenas Yerbas wild gefeiert, und wie Sie sich vorstellen können, war die Polizei stark unterbesetzt. Dad bekam einen Anruf, der eine Plünderung am Silvaplana Wharf meldete, eine Art Niemandsland zwischen dem 10. Revier, der Hafenbehörde und dem Spinoza-Revier. Wer die Wache verständigte und warum – ein ernst gemeinter Hinweis, ein Verrat aus den eigenen Reihen, ein Irrtum oder ein übler Streich mit
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