Der Wolkenatlas (German Edition)
zu schützen?»
Luisa antwortet, ohne zu zögern. «Wenn ich an die Sache glaube? Jeden.»
«Gefängnis, zum Beispiel, wegen Missachtung des Gerichts?»
«Wenn es so weit kommt, ja.»
«Würden Sie Ihre … eigene Sicherheit aufs Spiel setzen?»
«Hm …», jetzt zögert sie, «das … müsste ich wohl.»
«Sie müssten? Wieso?»
«Mein Vater bot für seine Journalistenehre verminten Sümpfen und dem Zorn diverser Generäle die Stirn. Wäre es da nicht eine Verhöhnung seiner Person, wenn die Tochter kneift, sobald es haarig wird?»
Sag’s ihr . Sixsmith öffnet den Mund, um ihr alles zu erzählen – die Schönfärberei bei Seaboard, die Bestechungsversuche, die Erpressungen –, doch plötzlich gibt es einen Ruck, und der Fahrstuhl setzt sich rumpelnd in Bewegung. Die beiden blinzeln im grellen Licht, und Sixsmith merkt, dass die Entschlossenheit ihn verlässt. Die Nadel nähert sich der «1».
Die Luft in der Eingangshalle wirkt so frisch wie Gebirgswasser. Die wiederbelebte Technik hallt surrend durch das Gebäude.
«Ich rufe Sie an, Miss Rey», sagt Sixsmith, als Luisa ihm seinen Stock überreicht, «bald.» Werde ich mein Versprechen halten? «Wissen Sie was? Ich habe das Gefühl, als würde ich Sie schon Jahre kennen, dabei sind es erst neunzig Minuten.»
7
In den Augen des Jungen ist die platte Welt dreidimensional. Javier Gomez blättert im Licht der Schreibtischlampe in einem Briefmarkenalbum. Auf einer alaskischen Marke bellt ein Huskygespann, eine schreiende Nene-Gans watschelt über eine hawaiische Fünfzig-Cent-Sondermarke, ein Raddampfer pflügt sich durch den tiefschwarzen Kongo. Ein Schlüssel wird umgedreht. Luisa Rey stolpert zur Tür herein, geht in die winzige Küche und schleudert ihre Schuhe weg. Sie ist verärgert, weil der Junge da ist. «Javier!»
«Oh, hi.»
«Komm mir nicht mit ‹Oh, hi›. Du hast versprochen, nie wieder über den Balkon zu springen. Was ist, wenn dich jemand für einen Einbrecher gehalten und die Polizei geholt hätte? Oder wenn du ausgerutscht und abgestürzt wärst?»
«Dann gib mir doch einen Schlüssel.»
Luisa dreht einen unsichtbaren Hals um. «Ich hätte keine ruhige Minute mehr, wenn ich wüsste, dass ein Elfjähriger jedes Mal in meine Wohnung spaziert, wenn …», seine Mutter die ganze Nacht weg ist, denkt sie, aber sie sagt: «… nichts Spannendes im Fernsehen läuft.»
«Und warum lässt du dann das Badezimmerfenster offen?»
«Weil es schon schlimm genug ist, wenn du einmal über den Abgrund springst. Ich will nicht, dass du nochmal springen musst, weil du nicht reinkannst.»
«Ich werde im Januar elf.»
«Kein Schlüssel.»
«Freunde geben sich ihre Schlüssel.»
«Nicht, wenn die eine sechsundzwanzig ist und der andere ein Fünftklässler.»
«Warum kommst du so spät? Wen Aufregendes kennen gelernt?»
Luisa wirft ihm einen zornigen Blick zu, aber ihr Ärger hält nicht lange vor. «Der Stromausfall hat mich in einem Fahrstuhl erwischt. Aber das geht dich überhaupt nichts an, Mister.» Sie knipst das Deckenlicht an und zuckt zusammen, als sie die böse rote Strieme in Javiers Gesicht erblickt. «Ver– was ist passiert?»
Der Junge starrt die Wand an und wendet sich wieder den Briefmarken zu.
«Wolfmann?»
Javier schüttelt den Kopf, faltet einen winzigen Papierstreifen und leckt ihn von beiden Seiten an. «Dieser Clark ist wieder da. Mom schiebt Nachtschicht im Hotel, und er wartet auf sie. Er wollte mich wegen Wolfmann ausfragen, aber ich habe gesagt, das geht ihn nichts an.» Javier klebt den Falz an die Briefmarke. «Es tut nicht mehr weh. Hab Salbe draufgemacht.» Luisas hat schon die Hand am Hörer. «Nicht Mom anrufen! Dann kommt sie sofort her, es gibt riesig Zoff, und das Hotel schmeißt sie raus, genau wie beim letzten Mal und beim Mal davor.» Luisa denkt darüber nach, legt den Hörer zurück auf die Gabel und geht zur Tür. «Nicht rübergehen! Der Typ ist krank im Kopf! Er rastet bloß aus und schlägt unser Zeug kaputt, und dann werfen sie uns aus der Wohnung oder so! Bitte .»
«Verdammt.» Luisa atmet tief durch. «Kakao?»
«Ja, bitte.» Der Junge ist fest entschlossen, nicht zu weinen, aber sein Kiefer schmerzt vor Anstrengung. Er wischt sich über die Augen. «Luisa?»
«Ja, Javi, ist schon gut, du schläfst heute Nacht auf dem Sofa.»
8
Dom Grelschs Büro ist ein Paradebeispiel für geordnetes Chaos. Der Blick auf die 3rd Avenue zeigt eine Wand aus Büros, die seinem sehr
Weitere Kostenlose Bücher