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Der Wolkenatlas (German Edition)

Der Wolkenatlas (German Edition)

Titel: Der Wolkenatlas (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Mitchell
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schrecklichen Folgen –, wurde nie geklärt, aber Dad und sein Partner, ein Mann namens Nat Wakefield, fuhren hin, um nach dem Rechten zu sehen. Sie parken zwischen zwei Frachtcontainern, stellen den Motor aus und gehen zu Fuß weiter. Plötzlich entdecken sie circa zwei Dutzend Männer, die Kisten aus einem Lagerhaus in einen gepanzerten Transporter laden. Es ist ziemlich dunkel, aber die Männer sehen nicht aus wie Hafenarbeiter, und Militäruniformen tragen sie auch nicht. Wakefield schickt Dad zurück zum Wagen, er soll Verstärkung anfordern. Er ist kaum dort, als er über Funk den Befehl erhält, den Einsatz sofort abzubrechen. Dad berichtet, was er beobachtet hat, aber der Befehl wird wiederholt, also läuft er zurück zum Lagerhaus und kommt gerade noch rechtzeitig, um mit anzusehen, wie sich sein Partner von einem der Männer Feuer geben lässt und sechsmal in den Rücken geschossen wird. Irgendwie bewahrt er einen kühlen Kopf, rennt wieder zum Streifenwagen und funkt schnell einen Code 8 – einen Notruf –, bevor der Wagen im Kugelhagel erzittert. Er ist von allen Seiten umzingelt, nur das Hafenbecken ist frei, also springt er in die stinkende Brühe aus Dieselöl, Müll und Abwasser. Er taucht unter dem Kai hindurch – damals war Silvaplana Wharf noch keine Betonhalbinsel, sondern eine Art riesige Strandpromenade aus Stahl – und zieht sich klitschnass, mit nur noch einem Schuh und nutzlosem Revolver, an einer Leiter hoch. Ihm bleibt nichts anderes übrig, als die Männer zu beobachten. Sie sind gerade fertig mit Beladen, als zwei Streifenwagen vom Spinoza-Revier am Tatort eintreffen. Bevor Dad um den Platz herumgehen und die Polizisten warnen kann, kommt es zu einem hoffnungslos ungleichen Schusswechsel – die Gangster durchsieben die beiden Streifenwagen mit Maschinenpistolen. Der Transporter fährt an, die Gangster springen auf und werfen zwei Handgranaten von der Ladefläche. Ob die Granaten töten oder nur abschrecken sollten, ist schwer zu sagen, jedenfalls erwischte eine Dad und machte ein menschliches Nadelkissen aus ihm. Zwei Tage später wachte er im Krankenhaus auf, ohne sein linkes Auge. In den Zeitungen hieß es, eine Diebesbande hätte einen Zufallscoup gelandet. Aber die Männer vom 10. Revier glaubten an die Tat eines Verbrecherrings, der sich aufgrund der seit Kriegsende verschärften Kontrollen genötigt sah, im Krieg beiseite geschaffte Waffen zu verschieben. Es wurde Druck gemacht, die Ermittlungen im Silvaplana-Fall auszuweiten – 1945 bedeuteten drei tote Cops noch etwas –, aber der Bürgermeister lehnte ab. Ziehen Sie daraus Ihre eigenen Schlüsse. Dad jedenfalls tat das, und sein Glaube an den Rechtsstaat ging den Bach runter. Acht Monate nach der Entlassung aus dem Krankenhaus hatte er eine Journalistenausbildung abgeschlossen.»
    «Du liebe Zeit», sagt Sixsmith.
    «Den Rest wissen Sie vielleicht. Korea-Berichterstattung für den Illustrated Planet , anschließend Lateinamerika-Korrespondent für den West Coast Herald . Die Schlacht von Ap Bac führte ihn nach Vietnam, und er blieb bis zu seinem Zusammenbruch letzten März in Saigon. Es ist ein Wunder, dass die Ehe meiner Eltern so viele Jahre gehalten hat – die Zeit von April bis Juni, als er im Hospiz lag, war die längste, die ich je mit ihm verbracht habe.» Ihre Stimme wird ganz leise. «Ich vermisse ihn, Rufus, ich vermisse ihn schrecklich. Immer wieder vergesse ich, dass er tot ist. Immer wieder denke ich, dass er irgendwo in der Weltgeschichte herumschwirrt und bald nach Hause kommt.»
    «Er muss sehr stolz auf Sie gewesen sein, als Sie in seine Fußstapfen traten.»
    «Ach, Luisa Rey ist nicht Lester Rey. Ich habe Jahre damit vergeudet, aufsässig und emanzipiert zu sein, habe auf große Dichterin gemacht und in einem Buchladen in der Engels Street gearbeitet. Mein Künstlergehabe beeindruckte niemanden, meine Gedichte waren, wie Lawrence Ferlinghetti es ausdrückte, ‹so nichtssagend, dass schlecht gar kein Ausdruck ist›, und der Buchladen ging Pleite. Weiter als zur Kolumnistin habe ich es bis jetzt nicht gebracht.» Luisa reibt sich die müden Augen und denkt an Richard Ganjas Abschiedsworte. «Nichts mit preisgekrönten Reportagen aus Kriegsgebieten. Ich hatte mir von meinem Wechsel zum Spyglass so viel versprochen, aber näher als mit albernem Klatsch über Prominentenpartys bin ich Dads Berufung nicht gekommen.»
    «Ist der alberne Klatsch denn gut geschrieben?»
    «Oh, er ist sogar brillant

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