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Der Wolkenatlas (German Edition)

Der Wolkenatlas (German Edition)

Titel: Der Wolkenatlas (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Mitchell
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geschrieben.»
    «Dann dürfen Sie noch nicht über ein verschwendetes Leben klagen. Verzeihen Sie, wenn ich mit meiner Erfahrung protze, aber Sie haben nicht die leiseste Vorstellung, was ein verschwendetes Leben ausmacht.»
     
    5
     
    «Hitchcock ist vernarrt ins Rampenlicht», sagt Luisa, während der Druck auf ihrer Blase langsam unangenehm wird, «aber Interviews verabscheut er. Er hat meine Fragen nicht beantwortet, weil er gar nicht richtig zuhörte. Seine besten Arbeiten, sagte er, seien wie eine Achterbahnfahrt; die Zuschauer stehen Todesängste aus, aber hinterher stellen sie sich kichernd für die nächste Fahrt an. Ich stellte die Behauptung auf, der Schlüssel zum inszenierten Schrecken heiße Abgrenzung oder Abwehr: Solange Bates’ Motel nichts mit unserem Leben zu tun hat, wollen wir einen Blick hineinwerfen wie in die Erdhöhle eines Skorpions. Aber ein Film, in dem die Welt und Bates’ Motel ein und dasselbe sind, wäre, na ja, dann … landen wir bei Dystopie, Depression und Buchenwald. Wir tauchen unsere Zehen in eine brutale, amoralische, gottlose Welt – aber nur die Zehen. Die Antwort des großen Meisters lautete:» – Luisa imitiert ihn ausgesprochen gut –, «‹Ich bin nicht das Orakel von Delphi, junge Dame, sondern Hollywoodregisseur.› Ich fragte ihn, warum er noch nie einen Film in Buenas Yerbas gedreht habe. Hitchcock antwortete: ‹Diese Stadt vereint die schlechtesten Eigenschaften San Franciscos mit den schlechtesten Eigenschaften von Los Angeles. Buenas Yerbas ist ein Ort der Ausweglosigkeit.› Er sprach die ganze Zeit in solchen Bonmots, nicht für mich, sondern für die Nachwelt, damit die Gäste künftiger Abendgesellschaften sagen können: ‹Das stammt übrigens von Hitchcock.›»
    Sixsmith wringt den Schweiß aus seinem Taschentuch. «Letztes Jahr sah ich mir mit meiner Nichte in einem Programmkino Charade an. – Ist der überhaupt von Hitchcock? – Sie nötigt mich zu solchen Dingen, damit ich nicht ‹spießig› werde. Ich fand den Film ganz passabel, aber meine Nichte meinte, Audrey Hepburn sei ein Dummbatz. Ein herrlicher Ausdruck.»
    «Ist Charade nicht der Film, in dem Briefmarken für die entscheidende Wendung sorgen?»
    «Ein künstliches Puzzle, ja, aber ohne solche Kunstgriffe wäre jeder Thriller verloren. Hitchcocks Worte über Buenas Yerbas rufen mir John F. Kennedys Bemerkung über New York ins Gedächtnis. Kennen Sie die? ‹Die meisten Städte sind Substantive, aber New York ist ein Verb.› Was wäre wohl Buenas Yerbas?»
    «Eine Kette von Adjektiven und Konjunktionen?»
    «Oder ein Kraftausdruck?»
     
    6
     
    «Megan, meine geliebte Nichte.» Rufus Sixsmith zeigt Luisa das Foto einer braun gebrannten jungen Frau neben einer gesünderen, sportlicheren Ausgabe seiner selbst. Das Foto wurde in einem sonnigen Yachthafen aufgenommen. Der Fotograf hat eine scherzhafte Bemerkung gemacht, bevor er auf den Auslöser drückte. Ihre Beine baumeln über dem Heck einer kleinen Yacht namens Starfish . «Mein alter Kahn, ein Relikt aus vitaleren Zeiten.»
    «Sie sind doch nicht alt», wendet Luisa höflich ein.
    «O doch. Wenn ich mich heute entschließen würde, noch einmal in See zu stechen, müsste ich eine kleine Crew anheuern. Ich verbringe immer noch viele Wochenenden auf dem Boot, bummle durch den Yachthafen, denke ein bisschen nach, arbeite. Auch Megan liebt das Meer. Sie ist die geborene Physikerin und hat mehr Verständnis für die Mathematik, als ich es je hatte, sehr zum Ärger ihrer Mutter. Mein Bruder hat Megans Mutter nicht wegen ihrer Intelligenz geheiratet, muss ich leider sagen. Sie ist verrückt nach Feng Shui, dem I-Ging und jedem anderen Soforterleuchtungshokuspokus, der gerade die wöchentliche Hitparade anführt. Megan hingegen ist außerordentlich intelligent. Sie verbrachte ein Jahr ihrer Promotionszeit an meinem alten College in Cambridge. Eine Frau am Caius!», seufzt Sixsmith belustigt. «Im Moment ist sie bei den großen Satellitenschüsseln auf Hawaii, um ihre radioastronomischen Forschungen abzuschließen. Während ihre Mutter und ihr Stiefvater dem Müßiggang frönen und sich am Strand rösten wie Toastscheiben, sitzen Megan und ich in der Bar und stoßen Gleichungen um.»
    «Haben Sie eigene Kinder, Rufus?»
    «Ich war mein Leben lang mit der Wissenschaft verheiratet.» Sixsmith wechselt das Thema. «Eine hypothetische Frage, Miss Rey. Welchen Preis würden Sie bezahlen, Sie als Journalistin, meine ich, um einen Informanten

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