Der Wolkenatlas (German Edition)
nicht trocknen will. Flure so zugig, daß die Türen knallen. Der Herbst tauscht seine Milde gegen eine dornige, faulige Zeit. Erinnere mich nicht mal, daß der Sommer sich verabschiedet hat.
Dein
R. F.
Halbwertszeiten
Luisa Reys erster Fall
1
Rufus Sixsmith beugt sich über den Balkon und schätzt die Geschwindigkeit, mit der sein Körper auf dem Bürgersteig aufschlägt und ihn von seiner Misere erlöst. Im dunklen Zimmer klingelt das Telefon. Sixsmith wagt nicht abzunehmen. Aus der Nachbarwohnung, wo eine Party in vollem Gang ist, dröhnt laute Discomusik, und Sixsmith fühlt sich älter als seine sechsundsechzig. Die Dunstglocke verdunkelt die Sterne, aber im Norden und Süden, entlang der Küste, flackern die Milliarden Lichter von Buenas Yerbas. Im Westen der unendliche Pazifik. Im Osten Amerika, unser nackter, heroischer, unheilvoller, geheiligter, durstiger, rasender Kontinent.
Nebenan tritt eine junge Frau auf den Balkon und beugt sich über die Brüstung. Ihr Haar ist kurz geschnitten, das violette Kleid elegant, aber sie wirkt zutiefst traurig und einsam. Wie wäre es, wenn du ihr einen Selbstmordpakt vorschlägst? Sixsmith meint es nicht ernst, und er wird auch nicht springen, jedenfalls nicht, solange er noch ein Fünkchen Humor hat. Außerdem ist ein Unfall genau das, worauf Grimaldi, Napier und das geschniegelte Gaunerpack im Stillen hoffen. Eine Krankenwagensirene schneidet sich durch das unaufhörliche Rumpeln des Verkehrs. Sixsmith schlurft nach drinnen, und das Klingeln hört abrupt auf. Er schenkt sich noch einen großen Wermut aus der Minibar seines abwesenden Gastgebers ein, hält die Hände in den Eiskübel und kühlt sich das Gesicht. Geh zur nächsten Telefonzelle und ruf Megan an, sie ist die einzige Freundin, die du noch hast. Er weiß, dass er es nicht tun wird. Du darfst sie in diese lebensgefährliche Sache nicht mit reinziehen. Der stampfende Discorhythmus pocht in seinen Schläfen, aber er ist hier nur Gast, und es wäre unklug, sich zu beschweren. Buenas Yerbas ist nicht Cambridge. Außerdem bist du untergetaucht. Der Wind schlägt die Balkontür zu, und vor Schreck verschüttet er das halbe Glas. Nein, du alter Trottel, das war kein Schuss.
Er wischt den Wermut mit einem Geschirrhandtuch auf, macht den Fernseher an und sucht bei leise gedrehtem Ton nach M*A*S*H . Irgendwo läuft es. Schalte einfach weiter.
2
Luisa Rey hört ein dumpfes Geräusch vom Nachbarbalkon. «Hallo?» Niemand da. Ihr Magen ermahnt sie, ihr Tonic Water abzustellen. Du brauchst keine frische Luft, du brauchst ein Klo , aber es kostet sie zu viel Überwindung, sich erneut durchs Partygewühl zu drängeln, was soll’s, eh zu spät – und sie reihert an der Hauswand hinunter: einmal, zweimal, das Bild von fettigem Hähnchen, und nochmal. Das , sie wischt sich über die Augen, war das Drittekelhafteste, was du je getan hast. Sie spült sich den Mund mit Tonic aus und spuckt in einen Blumentopf hinter der Trennwand. Du vergeudest dein Leben . Sie tupft sich den Mund mit einem Papiertaschentuch ab und kramt ein Pfefferminz aus ihrer Handtasche. Geh nach Hause und saug dir die elenden dreihundert Worte ausnahmsweise mal aus den Fingern. Die Leute interessieren sich sowieso nur für die Bilder.
Ein Mann, zu alt für seine Lederhose und die Zebrafellweste auf nacktem Oberkörper, tritt auf den Balkon. «Luis aaa !» Kunstvoll geschnittener goldblonder Bart und um den Hals ein Ankh aus Mondstein und Jade. «Hi!»
Luisa überlegt, ob ihr Geruch ihn abschrecken könnte, aber dafür ist er zu high. «Richard», sagt sie.
«Na, ein bisschen Sterne gucken? Alles klar. O Mann, Bix hat ’n halbes Pfund Schnee mitgebracht. Echt abgefahren, der Typ. Hey, hab ich’s dir im Interview schon gesagt? Ich nenn mich jetzt ‹Ganja›. Maharaj Aja sagt, ‹Richard› harmoniere nicht mit meinem ajurvedischen Ich.»
«Wer?»
«Mein Guru, Luis aaa , mein Guru! Er ist in der letzten Reinkarnation vor –» Er öffnet weihevoll die Hände, puff! – dem Nirwana. «Komm mal zu ’ner Audienz. Ich meine, die Warteliste ist echt endlos , aber Jade-Ankh-Jünger kriegen noch am selben Nachmittag ’ne Privataudienz. Ich meine, warum studieren und der ganze Scheiß, wenn Maharaj Aja dir … alles beibringen kann.» Er rahmt mit den Fingern den Mond ein. « Worte sind doch voll … verkrampft, ey … Das All … ist irgendwie … ich meine, irgendwie total . Bock auf Gras? Acapulco Gold. Hab ich von Bix.»
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